Das von der Bundesregierung aufgegebene klimapolitische Ziel für 2020 könnte ohne neuartige Rezepte auch jetzt noch erreicht werden, hat das Fraunhofer-Institut Fraunhofer IEE im Auftrag der Umweltschutzorganisation Greenpeace in einer Studie ermittelt. Würde Deutschland bis 2020 von seinen eher mittelgroßen Braunkohle-Kraftwerksblöcken eine kluge Auswahl von 14 Anlagen abschalten und dabei 6,1 Gigawatt (GW) Erzeugungskapazität vom Netz nehmen und würde das Land außerdem die Arbeit aller mindestens 20 Jahre alten Braunkohlekraftwerke um etwas mehr als 10 Prozent drosseln, ließe sich der bundesweite Ausstoß von Treibhausgasen wie noch bis Jahresanfang von der Bundesregierung zugesagt um 40 Prozent senken.
Dabei haben sich Fraunhofer IEE und Greenpeace in der Studie „2030 kohlefrei“an ein inoffizielles Papier aus dem Wirtschaftsministerium vom November vergangenen Jahres gehalten. In diesem hatten Experten geprüft, welche Kohlekraft-Kapazitäten in Deutschland sofort vom Netz könnten, ohne die Versorgung zu gefährden. Unterm Strich dieser Berechnung standen auf diesem Papier ebenfalls 14 Braunkohle-Blöcke mit sogar sieben GW verzichtbare Verstromungskapazität. Das Papier hatte als Grundlage für eine Einigung von FDP, CDU/CSU und der Grünenpartei auf eine sogenannte Jamaika-Regierungskoalition dienen sollen. Die Verhandlungen für eine Jamaika-Regierung waren bald danach aber geplatzt.
Die Studie prüft, welche in der politischen Debatte schon bekannten Maßnahmen vor allem im Kraftwerksbereich das 40-Prozent-Ziel noch erreichen lassen. Sie geht dabei von den ohnehin eingeleiteten Klimaschutzentwicklungen im Straßenverkehr und in der Wärmeversorgung aus. Außerdem setzt das optimistischste Szenario auch die Verwirklichung der von der Koalition versprochenen Sonderausschreibungen für jeweils vier GW Windkraft und Photovoltaik (PV) bis 2020 voraus. Diese Extra-Grünstromkapazitäten müssten dann bis 2020 weitgehend mit der Einspeisung beginnen und den sich im regulären Ausschreibungssystem drohenden Fadenriss bei den Anlagenerrichtungen ausgleichen. Der Koalitionsvertrag hat die Sonderausschreibungen in Aussicht gestellt. Allerdings zeigen die Regierungspartner in Berlin bisher keinerlei Ansätze, die Sonderausschreibungen tatsächlich bald zu beschließen.
Ohne die Sonderausschreibungen ergeben die Berechnungen des Fraunhofer IEE allerdings nach Abschalten von sechs GW Braunkohlekraft eine Versorgungslücke. Das würde paradoxerweise sogar noch mehr Abschaltungen von Braunkohlekapazitäten im Jahr 2020 erfordern. Ohne Sonderausschreibungen, so begründet die Studie, müssten die Energiekonzerne zwei weitere, sogar sehr große Kohlekraftblöcke in Mitteldeutschland vom Netz nehmen. Stattdessen müsste dann emissionsärmere Steinkohlekraftwerke mehr Strom erzeugen und die Versorger und Großverbraucher müssten mehr Strom importieren. Importstrom gilt in den international gültigen Berechnungen der Treibhausgasemissionen als emissionsfrei. Die Bundesrepublik würde in diesem Fall zur Erreichung des Klimaziels 2020 eine Erzeugungskapazität der Braunkohle-Anlagen von 7,4 GW vom Netz nehmen müssen.
Würde die Bundesregierung nur ihre jetzt beschlossenen Maßnahmen umsetzen, würde sie eine Reduzierung des Treibhausgas-Ausstoßes nur um 32 Prozent im Vergleich zum Basisjahr 1990 erreichen, das den Klimazielen zugrunde liegt. Und würde Deutschland dann auf diesem Pfad im bisherigen Trend der Energiewende verbleiben, käme es bis 2030 auf eine Treibhausgasreduktion um 55 Prozent im Vergleich zu 1990. Dies entspricht zwar noch immer dem offiziellen Ziel der Bundesregierung. Nur würde es dem Ziel der internationalen Klimakonferenz von Paris nicht mehr gerecht werden können. Dort hatten die meisten Staaten wie auch Deutschland zugestimmt, die weltweite Klimaerwärmung so gut wie möglich auf einen Anstieg der mittleren Jahrestemperatur um 1,5 Grad Celsius zu beschränken, maximal aber auf unter 2 Grad.
Um Deutschlands Möglichkeiten entsprechend genug zum globalen 1,5-Grad-Ziel beizutragen, müsse Deutschland die Emissionen verglichen mit 1990 um 72 Prozent reduzieren, betont die Studie. Auf dieser Überlegung gründet der weitere Fahrplan zum Kohleausstieg: Fraunhofer IEE und Greenpeace wollen diesen schon 2030 vollenden. Von den derzeit 18,2 GW Braunkohle-Kraftwerkskapazitäten im Land müssten Ende 2025 schon 10,5 GW stillgelegt sein. Herausnehmen lassen wollen die Autoren die ältesten Kraftwerke. 2030 müsste dann aber das komplette Volumen vom Netz sein. Die Stilllegung der weniger CO2 emittierenden Steinkohleblöcke müsste erst bis 2025 mit einer Herausnahme der ersten 6,7 GW vorangekommen sein. Schon dann allerdings glauben die Autoren nicht mehr an eine relevante Größe der Steinkohleverstromung. Die steigenden europäischen Handelspreise für Emissionsrechte beim CO2-Ausstoß würden den regelmäßigen Betrieb von Steinkohlekraftwerken unrentabel werden lassen. Nur als Regelenergielieferanten lohnten sie sich noch. Für 2030 sehen Fraunhofer IEE und Greenpeace dann das komplette Ende der Steinkohleverstromung vor. Derzeit sind noch Steinkohlekraftwerke mit 21,8 GW am Netz.
Die Herausnahme insbesondere der Braunkohle-Kapazitäten aus dem System sollte nach dem Alter der Anlagen, betonten die Studienautoren. So müssen die Braunkohle-Verstromer vom kommenden Jahrzehnt an ihre noch verbliebenen Anlagen ab einem Alter von 20 Jahren auf eine jährliche Volllaststundenzahl von 6.000 drosseln. Ab 2025 müssen sie die Erzeugung aus den dann verbliebenen 7,7 GW auch altersunabhängig sogar auf 4.000 Volllaststunden dimmen.
Die Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) könnte laut der Studie noch bis 2020 vom Kohleausstieg ausgenommen bleiben. Dies soll die Wärmeversorgung in Deutschland absichern. Danach aber müsste die Kohle- durch Gasverstromung in den KWK-Anlagen ersetzt werden. Zehn GW durch neue Gaskraftwerke sieht das Szenario hierfür vor.
Um auch nach 2020 keine Versorgungslücke entstehen zu lassen, müssten die jährlichen Neuinstallationen von regenerativen Kraftwerken zugleich ab 2021 deutlich anziehen. Jährlich 6,9 GW Windkraft an Land, 1,3 GW Windkraft auf See sowie bis zu 10 GW PV. Die energetische Nutzung der Biomasse wollen die Studienautoren hingegen ab 2025 deutlich zurückgehen sehen. Die Leistung der Biomasseanlagen müsse sich zunehmend auf die Ergänzung der wetterabhängigen Einspeisung von Strom aus Wind und Sonne beschränken und ab 2025 bis 2035 auf rund ein Zehntel zurückgehen, so verdeutlichen es die Grafiken der Studie.
Allerdings besagt „2030 kohlefrei“ keineswegs, dass nach 2020 noch weit überwiegend die aufgezählten zusätzlichen Maßnahmen für die Stromversorgung ausreichen. Um den von Deutschland erwartbaren Beitrag zum 1,5-Grad-Ziel wirklich zu leisten, müsste die Politik ab 2021 durch beherzte Reformen auch den Verkehr- und den Wärmesektor zu mehr Eile beim Verlassen ihrer fossilen Pfade drängen. Konkret beispielsweise stützt sich das entsprechende Klimaziel-Szenario auf das im Greenpeace-Auftrag durch das Wuppertal-Institut geschriebene Mobilitätsszenario „Verkehrswende für Deutschland“ von 2017. Es sieht die vollständige Dekarbonisierung des Verkehrs in Deutschland bis 2035 vor.
In einem Fazit zur Vorstellung der Studie stellte Greenpeace sogar einen großen Erfolg für einen ganz akuten Streit zwischen Politik und Energiekonzernen auf der einen und Klima- und Umweltschützern auf der anderen Seite in Aussicht. Der vom Braunkohletagebau durch den Konzern RWE bedrohte ökologisch wertvolle Hambacher Forst könne erhalten bleiben, resümierte Greenpeace am Freitag: „Aus dem Fraunhofer-Szenario abgeleitete Kohlemengen für einzelne Kraftwerke zeigen, dass in den Tagebauen Hambach und Garzweiler deutlich weniger Braunkohle ausgebeutet werden müsste als RWE bislang plant. Um die Kraftwerke Niederaußem und Neurath entlang des Ausstiegpfads mit Kohle zu versorgen, müsste der Hambacher Wald nicht zerstört werden.“
(Tilman Weber)