Wie Klimaschutzaktivisten genauso wie Politiker der Energiewende befürwortenden Parteien sich derzeit selbst eine Falle stellen, führte am Dienstagabend im Nacht-Talk Markus Lanz ausgerechnet FDP-Politiker Volker Wissing vor. Der eher uncharismatische Ex-Wirtschaftsminister von Rheinland-Pfalz und Generalsekretär der energiewendekritischen FDP, mit 50 Jahren Lebensalter beileibe kein junger Wilder mehr, als gelernter Jurist im sehr nüchternen Recht haben geschult, stritt mit den populären Widerpart-Gästen, Jungpolitiker und SPD-Vorstand Kevin Kühnert sowie Aktivistin Luisa Neubauer von der Schülerinnen- und Schüler-Klimaschutzbewegung Fridays for Future (FFF). Irgendwann am Ende der ersten Talk-Hälfte hatte die FFF-Aktivistin alarmierend auf den rasanten Klimawandel als alles im Leben und in der Politik dominierende Rahmenbedingung verwiesen. Gut informiert wollte sie so verdeutlichen, dass Klimaschutz vielleicht nicht alles, aber ohne Klimaschutz alles nichts ist. Und dass sich Politik und Parteien dem Primat von Kohlendioxidvermeidung – CO2-Reduktion –, von Sektorenkopplung und internationalen Klimaschutzvereinbarungen unterzuordnen hätten. Alles müsse dem Ziel dienen, die Emissionen noch viel schneller als schon versprochen auszuschleichen, so Neubauers Tenor. Sozialdemokrat Kühnert schloss sich mit gebremstem Elan an.
Doch Wissing konnte die Steilvorlage zur FDP-Selbstdarstellung nutzen: Die deutsche Politik müsse gemäß FDP-Konzept dort in Klimaschutz investieren lassen und gesetzliche Rahmenbedingungen anpassen, wo eingesetztes Kapital vergleichsweise am meisten CO2-Reduzierung erreiche. Von einem Zertifikatehandel sprach Wissing, der gemäß einer neuen Studie aus Weimar nur 60 Euro pro Tonne CO2 kosten werde und der als Marktmechanismus verlässlich zuerst die Emissionsquellen abstelle, für die sich pro Euro die meisten CO2-Gewichtseinheiten reduzieren lassen. Sie löse dann die 2.000 Euro pro Tonne CO2 kostende aktuelle Energiewendepolitik ab.
Wissing gelang es, 18 Minuten lang nur über den vermeintlichen Charme des marktwirtschaftlichen Konzeptes zu sprechen – das ausgerechnet eine Studie adelt, die Wissing schließlich auf Nachfrage des Moderators als Studie im Eigenauftrag der FDP enttarnte. Welche Energiewende hieraus entstehen würde, musste Wissing nicht einmal mehr ausführen. Erst recht nicht, ob sie eine hohe Bürgerbeteiligung zuließe, dezentrale Energien oder eher Atomkraft, mehr Erneuerbaren-Ausbau hierzulande oder eher mit deutschem Kapital zur Verrechnung in anderen globalen Regionen.
Die Diskussion war ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn der Klimadiskurs sich einer weltweiten, mathematisch durchdeklinierten Perspektive öffnet, aber sich unterhalb dieser Ebene im Ungefähren verliert. Oder präziser: Sich im Klimaverrechnungsdiskurs verengt.
Es ist auch ein Problem für den Klimaschutzmechanismus der Vereinten Nationen, die im November die Länder zur Klimaschutzkonferenz COP 26 im schottischen Glasgow versammelt.
So wirkt auch die neue alarmierende Meldung der wissenschaftlichen Analyse-Plattform Climate Action Tracker (CAT) bloß als erneuter Druck-Hochregler in einem Kessel, in dem die Energiepolitik vielleicht hohe Betriebstemperatur gewinnt, aber zunehmend planlos beziehungsweise rezeptfrei hochkocht.
Das CAT hatte gerade festgestellt, dass von 164 getrackten und speziell den 33 näher analysierten Ländern außer dem afrikanischen Gambia keines das weltweit vereinbarte Klimaschutzziel erreicht, das 2015 in Paris verabredet wurde. Dieses sieht bekanntlich eine Reduzierung der für den Klimawandel verantwortlichen Treibhausgase auf ein Maß vor, mit dem die Klimaerwärmung insgesamt weltweit 1,5 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter nicht übersteigt. Der CAT unterscheidet in Länder, die weitreichendere nationale Beiträge fürs Erreichen des Pariser Klimaziels bereits zur internationalen Anrechnung eingereicht haben, die weitreichendere Beiträge vorgeschlagen haben und die ihre Ambitionen nicht erhöht haben sowie in Länder, die ihre Ambitionen zwar erhöht, aber vom CAT aufgrund möglicherweise geringerer Wichtigkeit nicht analysiert wurden. Wer will, kann eine begleitende Begründung der Tracker-Ergebnisse mit einigen Angaben im Detail zu den Ländereinstufungen lesen. Doch die Einstufung in gute Länder, weniger gute, weniger schlechte und schlechte Länder gemäß dem CO2-Tracking-System ignoriert vollständig, welche Qualität die CO2-Vermeidung der Länder hat und welche Sprünge die politischen Führungen ihren Ländern zumuten – und erst recht, wie stabil der eingeschlagene Kurs ist.
Die auf CO2- und Klimadaten verengte Verrechnungspolitik drängt viele Länder zwar tatsächlich zu immer neuen Bekenntnissen. Doch wie ist zu verrechnen, dass nun China ein schnelles Ende der Errichtung neuer Kohlekraftwerke durch chinesische Firmen im Ausland als Rezept seiner Entwicklungshilfepolitik verspricht? Dies kündigte die Staatsführung in Peking nun an. Stattdessen will die autoritär geführte zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt in ihren Kooperationen zum Energie-Infrastrukturausbau kapitalschwächerer Länder nur noch Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien ausbauen. Wie soll ein Trackingsystem andererseits verrechnen, dass die EU-Staaten koordiniert durch ihren Staatenverbund Europäische Union (EU) sehr fleißig Ziele nachmelden, doch in fast ganz EU-Osteuropa kaum noch Ausbau erneuerbarer Energien stattfindet? Dafür vermarkten diese Länder nun Visionen gigantischer neuer Atomkraftkapazitäten zur CO2-Reduzierung.
Wie ist zu verrechnen, dass der noch neue demokratische US-Präsident Joe Biden zwar das eigene staatliche Klimaschutz-Investitionsprogramm zur Abfederung der ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie im Parlament nicht durchsetzen kann, aber nun eine weltweite Initiative zur Reduktion der Methanemissionen einleitet. Gemeinsam mit der EU wollen die USA eine Global Methane Pledge auf den Weg bringen. Dies kündigten beide Seiten am Samstag an. Zur Erinnerung: Methanemissionen sind ein um ein Mehrfaches stärkerer Treiber der Erderwärmung als CO2. Menschen verursachen Methanemissionen nicht zuletzt auch durch Erdgasförderung.
Doch wären die USA wirklich bereit, auf das dort übliche Fracking von Erdgas zu verzichten? Dieses erzeugt womöglich nicht mehr Methanlecks im Boden, als die konventionelle Erdgasausbeute in riesigen Gasfeldern wie in Russland. Zugleich verursacht Fracking aber durch notwendige Nutzung chemischer Mittel zur Ausbeutung gashaltiger Böden, durch Kühlung zur Umwandlung in Flüssiggas und durch notwendige Schiffstransporte im Export noch zusätzliche Umweltschäden und Energiekosten. Lässt sich das alles verrechnen und in ein marktwirtschaftliches Wettbewerbssystem zum Klimaschutz pressen? Ist es vor allem realistisch anzunehmen, die rivalisierenden und teils sogar verfeindeten Staaten könnten sich auf solch diffizile und komplexe Mechanismen einigen?
Das Fazit muss lauten: Weder energie- noch klimapolitisch führt der Weg in eine nachhaltigere Zukunft vorbei an einer Energiewende, deren Ausgestaltung ein Ergebnis des Aushandelns politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Interessen ist, nicht aber bloßer Mathematik oder Preisfindung. Einfacher: Sich als fortschrittlich verstehende Staaten und Staatenbünde wie Deutschland oder die EU müssen definieren, wie viel und wie schnell sie die Erneuerbare-Energien-Nutzung ausbauen wollen. Sie müssen entscheiden, wie sehr flexiblere Energienutzungskonzepte und dezentralere Erzeugungsanlagen das Leben und Wirtschaften vielleicht in ganz EU-Europa verändern dürfen. Und auch: Wie viele und wie schnell reformunfähige Unternehmen verschwinden und durch neue Akteure ersetzt werden dürfen. Sie müssen die Balance beim Ausbau einer Infrastruktur finden, die eine Sektorenkopplung zur besten flexiblen Nutzung grüner Energie in allen Lebensbereichen ermöglicht: Wie viel muss Staat selbst planen, wie viel entsteht durch Schaffung neuer Marktregeln aus der Wirtschaft heraus – und geschieht es schnell genug?
Bei Lanz ließen sich dem Wähler dann die wirklich interessanten Unterschiede der Energiewende Wissings und Luisa Neubauers gut und plastisch herausarbeiten.
Sie wollen bei aktuellen Entwicklungen des Klimawandels auf dem Laufenden bleiben? Dann abonnieren Sie hier unseren kostenlosen Newsletter.