Agora-Chef Patrick Graichen nannte zunächst die Zielroute: Bis 2030 sollen hierzulande 55 Prozent weniger Treibhausgase als 1990 ausgestoßen werden, bis 2050 dann 80 bis 95 Prozent. Die Industrie habe zwar 36 Prozent erreicht, das sei aber dem Vereinigungseffekt geschuldet, erklärte er. Die Haushalte haben 39 Prozent geschafft. „Im Verkehr stehen wir bei plus minus Null“, so Graichen. Es wurde also seit 1990 nichts an CO2 im Verkehrssektor eingespart. „Die SUVs haben den Effekt aufgefressen“, erklärt er. In Zahlen heißt das: 1990 wurden 164 Millionen Tonnen CO2 im deutschen Verkehr verursacht, 2014 waren es 161 Millionen Tonnen. Bis 2030 sollen es 60 bis 65 Millionen Tonnen weniger sein. Angesichts des bisherigen Stillstands eine Herausforderung.
Christian Hochfeld, Direktor Agora Verkehrswende, erklärte dazu: „Das Klimaaktionsprogramm greift im Moment nicht.“ Hinzu kämen Probleme wie etwa dass sich der Treibhausgasausstoß im Flugverkehr seit den 90ern verdoppelt habe. Was muss passieren, um den Verkehr bis 2050 zu dekarbonisieren? Zum einen müsse die Effizienz um 40 bis 60 Prozent gesteigert werden, zum anderen müsste auf alternative Kraftstoffe umgestiegen werden. Eine bisher unveröffentlichte Studie des Umweltbundesamtes zeige, dass dies möglich sei, so Hochfeld. Alternative Antriebe seien Brennstoffzelle, E-Mobilität, Biokraftstoffe und strombasierte Kraftstoffe. E-Mobilität habe dabei die beste CO2-Bilanz, sei am umweltfreundlichsten und wirtschaftlichsten.
Hochfeld fragt in aller Deutlichkeit: „Wie wahrscheinlich ist es, dass wir den Verkehr in den Griff bekommen, wo doch 25 Jahre nichts passiert ist?“ Der Agora-Mann geht davon aus, dass der Problemdruck aus den Städten kommen wird. Vorteile im Bereich Lebensqualität und Gesundheit würden dort den Prozess beschleunigen. „Wir müssen die Verkehrswende in den Städten fördern“, fordert er. Die Technologie stehe zur Verfügung, aber gebraucht werde auch die politische Unterstützung. „Wir brauchen einen Konsens für die Dekarbonisierung im Verkehr, außerdem brauchen wir dort eigene Klimaziele und eine Förderung der E-Mobilität.“ Zudem müsse man über Veränderungen des Steuersystems und über Steuererhöhungen sprechen. Und schließlich verweist Hochfeld auf Staaten wie Norwegen und die Niederlande, die hier schon deutlich weiter sind als Deutschland: „Wir brauchen den Konsens zum Ausstieg aus fossilen Kraftstoffen.“
Wie verteilen sich die Treibhausgase auf die Sektoren? Der größte Teil entfällt mit 40 Prozent auf den Stromsektor. Der Wärmebereich kommt auf 26 und der Verkehr auf 18 Prozent. Felix Matthes vom Ökoinstitut sprach sogar von 50 Prozent der verbrennungsbedingten Treibhausgase, die auf den Strom entfallen. „Wir haben große Erfolge bei den erneuerbaren Energien, aber eine rückläufige CO2-arme Stromerzeugung“, so Matthes. „Seit den Neunzigern haben wir etwa konstante CO2-Werte im Stromsektor.“ Dass die Werte trotz der erneuerbaren Energien nicht gesunken seien, liege daran, dass wir immer mehr Strom aus CO2-intensiven Kraftwerken exportieren, statt diese abzuschalten. 350 Millionen Tonnen CO2 sind den fossilen Energien im Stromsektor geschuldet. Ein Drittel stammt aus Braunkohlekraftwerken, davon seien 50 Prozent sehr alt. „Da weiß man, an welche Sektoren man ran muss. Der Handlungskorridor ist nicht so strittig“, kommentiert Matthes. Das Klimaaktionsprogramm der Bundesregierung sehe für 2020 295 Millionen Tonnen im Stromsektor vor – da müsse man konsequent mehr als zehn Millionen Tonnen pro Jahr reduzieren. Bis 2030 sollen es 180 Millionen Tonnen sein. Seine Handlungsempfehlung: „Die erneuerbaren Energien müssen stetig ausgebaut werden.“ Bezüglich der sogenannten Weltformel, die einen Deckel ab 2019 bei 500 Megawatt Nettozubau für die Onshore-Windkraft vorsieht, betont er: „Es muss darum gehen, den Ausbau zu verstetigen.“ Er verwies noch darauf, dass in der Zeit um 2030 große Mengen an PV altersbedingt vom Netz gehen. Das müsse aufgefangen werden. Als politisches Instrument sieht er vier Säulen: Erneuerbare Energien, Erdgas, KWK und Effizenz – außerdem den Europäischen Emissionshandel. Bezüglich der Kosten der Umgestaltung der Energieversorgung auf die Klimaziele spricht er von einem Nullsummenspiel. „Auch in einer Referenzentwicklung müssten alte Braunkohlekraftwerke ersetzt werden. Das wäre ebenfalls teuer.“
Bezüglich des Emissionshandels sagt Felix Matthes: „Für die wichtige Phase haben wir’s versaut. Es wird über zehn Jahre dauern, bis wir eine Knappheit erreichen.“ Erst in der zweiten Hälfte der 2020er werde der Preis sich stabilisieren können. „Und das in einer Phase, in der es wichtig gewesen wäre, energieintensive Erzeuger aus dem System zu kriegen.“ Matthes sieht die Ursache für die niedrigen Zertifikatspreise vor allem an einem Überschuss an Zertifikaten aus China, Ukraine und Russland. Diese sind zum Beispiel über den Clean Development Mechanism ausgelöst worden.
Almut Kirchner, Bereichsleiterin Energie- und Klimaschutzpolitik der Prognos AG sprach über die Dekarbonisierung der Wärme. Eine wichtige Rolle spiele hier eine Energieeffizenz-Strategie im Gebäudesektor. Privathaushalte müssten bis 2050 rund 90 Prozent CO2 einsparen, so Kirchner: „Der Löwenanteil liegt bei der Raumwärme.“ Bei der CO2-freien Warmwassererzeugung kämen die erneuerbaren Energien ins Spiel. Hier gehe es auch um physikalische Fragen: Sind Dachflächen vorhanden? Insgesamt seien die bisherigen Aktivitäten zu gering. Man müsse mehr aus der Sanierung herausholen, so Kirchner: „Wir müssen die Sanierungsraten und -qualität erhöhen.“
Udo Sieverding von der Verbraucherzentrale NRW verweist darauf, dass Klimaschutz nicht für alle Menschen im Land das wichtigste Thema ist. Hinzu käme der Aufwärtstrend von eher klimaskeptischen Vereinigungen wie Pegida. Der freiwillige Ökostrommarkt liege am Boden, dort habe die Energiewende ihre Grenzen erreicht. Spannender findet er derzeit die Entwicklung der Prosumer. „Das sind die Pioniere.“ Wenn man sage, Batterien seien derzeit noch etwas teurer, das werde sich nicht rechnen, Häuserdämmung und Effizienz bringe dasselbe, dann wollen die das nicht wissen. „Das ist nicht sexy.“ (Nicole Weinhold)