Ein paar Windparks in der Landschaft, eine Handvoll Solaranlagen auf Deutschlands Dächern – die Energiewende ist einst so niedlich gewesen. Doch schon 2014 könnte sie ein Viertel des deutschen Stromverbrauchs ausmachen. Der Grünstrom verwässert den Börsenstrompreis und gefährdet die Geschäftsmodelle der Graustrombranche. Die Folge: 28 Stilllegungsanträge konventioneller Kraftwerksblöcke sind in diesem Jahr bei der Bundesnetzagentur eingegangen. Sieben Gigawatt stehen vor dem Aus, der Blackout droht, ruft RWE-Chef Peter Terium im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Dabei gehört genau der Ersatz der konventionellen Energien durch erneuerbare zur Grundidee der Energiewende. Doch jetzt, da die Energiewende real wird, fragen sich viele, ob das überhaupt gelingt, 100 Prozent erneuerbar. 77 Prozent der Bundesbürger bezweifeln das, ermittelte das Meinungsforschungsinstitut Forsa im November.
Alle Zweifel beseitigt
In einem Land, wo gelegentlich dichte Wolkendecken alle Solaranlagen überschatten und dem Wind hin und wieder die Puste ausgeht – kann da eine sichere Energieversorgung allein mit Grünstrom funktionieren? „Ja!“, sagt das Fraunhofer Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik (IWES). Nach drei Jahren Berechnungen, Simulationen und echten Feldtests im Forschungsprojekt Kombikraftwerk 2 zieht das Fraunhofer Institut sein selbstbewusstes Fazit: Eine stabile Stromversorgung auf Basis von 100 Prozent Erneuerbaren ist technisch sicher machbar. „Spätestens 2050 kommen Verbrennungskraftwerke nur noch ein paar Stunden im Jahr zum Einsatz. Wind und Photovoltaik (PV) müssen den Großteil der Nachfrage übernehmen“, sagt Kurt Rohrig, stellvertretender Institutsleiter des IWES in Kassel. Schon 2008 wiesen Rohrig und sein Team im ersten Kombikraftwerk nach, dass die Erneuerbaren in der Lage sind, den deutschen Strombedarf jederzeit zu decken. Im Kombikraftwerk 2 beantworten die Wissenschaftler vor allem zwei neue Fragen:
Wie genau muss eine Stromversorgung mit 100 Prozent Erneuerbaren aussehen und wie viel Speicher und Reservekraftwerke braucht man dazu?
Wie stellt man es an, dass das Netz stabil arbeitet, ohne auf konventionelle Grundlastkraftwerke zurückgreifen zu müssen?
80 Prozent aus Wind und Solar
Bei der künftigen Grünstromversorgung geht das IWES von einem Jahresstrombedarf von rund 600 Terawattstunden (TWh) ab dem Jahr 2050 aus. Um diesen Verbrauch zu decken, sei eine Erzeugung von 625 TWh nötig. Die installierte Leistung soll sich aus 60 Prozent Windenergie, 20 Prozent PV und zehn Prozent Bioenergie zusammensetzen. Weitere zehn Prozent liefern Geothermie und Wasserkraft. Knapp 80 Gigawatt Speicher, davon 13 Gigawatt, die per Power-to-Gas-Technologie Strom in Methan speichern, sieht das Konzept vor. „Die Biogasanlagen fahren in unserem Szenario sehr flexibel mit etwa 4.000 Volllaststunden im Jahr“, sagt Kurt Rohrig. Sie sind neben Methankraftwerken auch Teil des Backup-Systems von 60 Gigawatt. Dieses System springt immer dann ein, wenn Windflauten und Sonnenarmut das Land beherrschen. Es muss den maximalen Stromverbrauch der Republik decken können.
Der wirklich komplizierte Teil eines solchen Systems ist die Netzstabilität. Das Netz muss ohne die stabilisierende gleichmäßige Grundlastproduktion der fossilen Verbrennungskraftwerke seine Frequenz von 50 Hertz ohne große Ausbrüche wahren. Falls nicht, kommt es tatsächlich zu Ausfällen und Blackouts. Die Synchrongeneratoren konventioneller Kraftwerke rotieren mit den 50 Hertz des Netzes. Im Fall einer Frequenzabweichung reagieren sie nur träge, bleiben also zunächst bei 50 Hertz, was das Netz stabilisiert.
Reaktionsstärke noch ungenutzt
Wind- und PV-Anlagen können mit dieser trägen Schwungmasse nicht dienen. Was ihnen hier fehlt, machen sie aber durch schnelle Reaktionsgeschwindigkeiten wett: Sie können auf Schwankungen im Netz viel schneller aktiv reagieren als die trägen Synchrongeneratoren der Großkraftwerke. Damit sie ihren Vorteil jedoch ausspielen können, müsste es ihnen erlaubt sein, früher regulierend in das Stromnetz einzugreifen und nicht erst fünf Sekunden nach einem Frequenzeinbruch.
Doch auch ohne so weitreichende Veränderungen in der Regelung der Stromnetze können die Erneuerbaren stärker zur Netzstabilität beitragen. Schon heute. Bisher aber, sagt Rohrig, arbeiten die erneuerbaren Energien weit unterhalb ihrer Möglichkeiten: „Mit der richtigen Markt- und Systemintegration könnten sie bereits viel mehr Verantwortung übernehmen.“ Die Systemanforderungen an die Erneuerbaren sind zwar gestiegen, Windturbinen sollen zum Beispiel Blindleistung zur Netzstabilisierung bereitstellen. Doch diese Leistung wird bisher von den Netzbetreibern kaum genutzt. Gleichzeitig hat in der Vergangenheit auch die Vergütung nach erzeugter Kilowattstunde keinen Anreiz geliefert, Erneuerbare nur zu starken Bedarfszeiten zuzuschalten. Den größten Handlungsspielraum, um die Fähigkeiten der Erneuerbaren auf diesem Gebiet unter Beweis zu stellen, ermöglicht die Kombination der Einzelanlagen zu Kombikraftwerken ohne fossile Kraftwerke.
Feldversuch mit 80 Megawatt
Im Forschungsprojekt Kombikraftwerk 2 besteht dieser Kraftwerksverbund aus zwei brandenburgischen Windparks mit 76,4 Megawatt Leistung, zwölf Photovoltaikanlagen bei Kassel mit rund einem Megawatt sowie vier süddeutschen Biogasanlagen mit insgesamt 2,6 Megawatt Leistung. Diese Anlagen sollen nun nicht einfach nur ziellos Energie produzieren und in das Netz speisen. Sie sollen dem Stromnetz helfen, stabil zu arbeiten. Dafür hat das Fraunhofer IWES in Kassel eine Leitwarte eingerichtet.
In einer Live-Präsentation haben die Wissenschaftler am 30. Oktober gezeigt, was das Kombikraftwerk alles kann. Unter erschwerten Bedingungen, weil Brandenburgs Wind es gerade etwas ruhiger angehen lässt: „Die Windparks haben heute nur ein Achtel ihrer Maximalleistung“, kommentiert Kaspar Knorr, Projektleiter des Kombikraftwerks 2 die Situation. Dann schaltet er das Kraftwerk in den Regelleistungsmodus. Fünf Minuten später ist es bereit. Die erste Aufgabe für das Kraftwerk heißt nun: Verringere die Frequenz. Klappt anstandslos. Die Visualisierung in einem Diagramm zeigt, wie sich das Kraftwerk am neuen Sollwert ausrichtet.
Nun etwas schwieriger: Positivreserve. Um die erbringen zu können, werden die Windparks leicht gedrosselt gefahren. Auch den höheren Wert erreicht das Kraftwerk – mit Mühe allerdings, heute gibt der Wind einfach nicht das her, was er soll. Im Realfall hätte man nun verschiedene Windparks in unterschiedlichen Regionen Deutschlands und nutzt dann nur die, die gerade ausreichend Kapazität haben. Für die Positivreserve haben sich die Wissenschaftler eine Besonderheit einfallen lassen: „Um nicht zu viel Strom wegzuwerfen, bestimmen wir ständig die mögliche Einspeisung der Anlagen. Wir drosseln sie immer nur relativ zu dieser möglichen Einspeisung“, erläutert Kaspar Knorr, Projektleiter des Kombikraftwerks 2. Neben dieser Regelleistung für stabile Netzfrequenzen kann das Kraftwerk auch Leistung erbringen, um Spannungsschwankungen entgegenzuwirken.
Im 100-Prozent-Szenario sollen etwa 75 Prozent der Regelleistung aus den Speichern kommen. Was ein System dann noch benötigt, um zu funktionieren, sind neue Bedingungen für den Regelenergiemarkt. Wenn viel Wind und Sonne herrschen, sollen diese Grünstromquellen auch Regelleistung bereitstellen und andere Kraftwerke in dieser Zeit aus der Pflicht nehmen. Zurzeit erlauben die Marktbedingungen das allerdings nicht: Primärregelleistung wird für die Länge eines ganzen Monats beschafft, Sekundärregelleistung für eine Woche. Für die Erneuerbaren ist so ein langer Planungshorizont unerreichbar. „Zuverlässige Prognosen sind einen Tag zuvor für jede Stunde des Folgetags möglich“, sagt Knorr. Diese kurzen Zeitfenster müssten im Regelmarkt etabliert werden.
Netzplanung schon gut gerüstet
Ist diese Freiheit gegeben, können die einzelnen Betreiber virtueller Kombikraftwerke den Regelenergiemarkt übernehmen. Die bis dahin von der Bundesnetzagentur geplante Stromnetzinfrastruktur mit ihren Gleichstromautobahnen wäre bereits gut gerüstet für die 100-Prozent-Versorgung. Die größten Herausforderungen sieht das IWES daher nur noch in der IT-Technik und der Überwachung dieses Systems. „Wir sind auf dem Weg in eine neue Ära der Stromversorgung“, sagt Kurt Rohrig. „Das sollte Deutschland jetzt nutzen. Wir müssen zeigen, dass wir die Herausforderungen beherrschen und in die Systeme gehen können, ohne groß anzuecken.“ (Denny Gille)