Mit Kraft-Wärme-Kopplung aus mehreren mit Gas befeuerten Blockheizkraftwerken und mit Investitionen in Photovoltaikanlagen und Windparks erzeugten die Stadtwerke Tübingen (SWT) 2015 schon knapp 200 Gigawattstunden Strom, der zu rund 60 Prozent aus erneuerbaren Quellen stammt. Die gesamte Erzeugung der SWT-Anlagen deckte bis dahin die Hälfte des Strombedarfs der Stadt von 400 Gigawattstunden. Ende 2016, so lauten die Schätzungen der Geschäftsführung der SWT, haben die Stadtwerke so viele Kapazitäten an Erneuerbare-Energien-Anlagen in Betrieb genommen, dass sie rechnerisch 40 Prozent des Tübinger Stromhungers rein mit grüner Energie stillen können. Mit den schon weit fortgeschrittenen SWT-Projekten zum Bau der nächsten Erneuerbare-Energien-Anlagen ist die Versorgung Tübingens ab 2020 zu 50 Prozent mit Grünstrom in trockenen Tüchern. Außerdem liefern die Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen der Stadt in Fernwärmesystemen bereits einen erklecklichen Anteil der in Tübingen benötigten Heizwärme.
Die weitere Annäherung an die Vollversorgung nach 2020 sieht Oberbürgermeister Palmer allerdings durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz 2017 als fraglich an. Welche Rolle für die Tübinger Stadtwerke dennoch eine selbstbewusste Energiewende-Strategie hat und wie sehr Tübingen in den Augen des Grünen-Politikers als Vorbild taugt, darüber unterhielt sich ERNEUERBARE ENERGIEN im Interview mit Boris Palmer.
(Lesen Sie hier den zweiten Teil, der erste Teil ist im gedruckten Magazin am 1. Februar im Rahmen einer Titelgeschichte über die Energiewende Tübingens erschienen)
ERNEUERBARE ENERGIEN: Sind Sie sicher, Ihr Energiewendeziel zu erreichen, dass die Stadtwerke Tübingen 2020 so viel Strom aus eigenen Erneuerbare-Energien-Anlagen erzeugen, dass sich damit die Hälfte des Tübinger Strombedarfs beliefern lässt? Sie könnten ja noch eine Schippe drauflegen … ?
Boris Palmer: Das tun wir! Der Gemeinderat hat 2015 beschlossen, dass wir nun die Emissionen innerhalb der folgenden acht Jahre um weitere 25 Prozent pro Kopf senken wollen. Dazu dient auch das Investitionsprogramm der Stadtwerke, das 2012 mit neuem Kapital ausgestattet worden war, um 50 Prozent des gesamten Stromabsatzes in Tübingen im Jahre 2020 aus Erneuerbaren abzudecken. Mit dem nicht genau kalkulierbaren weil von der Nachfrage abhängenden Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung ergibt sich dann vermutlich ein Wert von 70 Prozent der Stromversorgung der Stadt durch Eigenerzeugung aus umweltfreundlichen Quellen. Das ist ein sehr ehrgeiziges Ziel.
Noch 2010 hatten Sie die geplante Beteiligung der Stadtwerke an einem später als unwirtschaftlich gecancelten Kohlekraftwerksprojekt in Brunsbüttel verteidigt: Die Stadtwerke wüssten genau, was sie zum Schreiben schwarzer Zahlen benötigen. Müssen Sie nie in die Geschäfte der Stadtwerke hineinregieren?
Palmer: Ohne geht es nicht. Aber ein Oberbürgermeister sollte keine Detailsteuerung vornehmen wollen. Wenn die Geschäftsführung zur sicheren Überzeugung kommt, dass es im Marktumfeld erforderlich ist für das Überleben der Stadtwerke in konventionelle Erzeugung zu investieren, dann müsste man als OB schon sehr gute Gründe haben, das zu verweigern. Damals waren die Zahlen so, dass es diese Gründe nicht gab. Erzeugung war sehr teuer. Gewinne wurden überwiegend im Erzeugungsbereich erzielt. Die Netze standen unter Regulierungsdruck und im Vertrieb gab es starke Konkurrenz. Als sich das anders entwickelt hat, hat die Geschäftsführung selbst von dem Plan wieder Abstand genommen. Ich kann Leitlinien setzen, zum Beispiel Klimaschutzziele. Die hatten wir und sie standen nicht im Widerspruch zu dieser Investition: Es wäre ein hocheffizientes Kraftwerk gewesen, wie es heute nicht in Deutschland existiert, weil ja keine gebaut wurden. An seiner Stelle wären gemäß Merit-Order-Stromhandelslogik alte Kohlekraftwerke vom Netz genommen worden.
Sind die jüngeren Tübinger Beschlüsse zu Klimaschutz und Erneuerbaren-Ausbau bis 2020 aber nicht Ausdruck dafür, dass Sie nachsteuern mussten?
Palmer: Bei den Stadtwerken muss ich nicht vorgeben, was zu tun ist. Wir erarbeiten im Dialog gemeinsam Ziele. Wir haben eine sehr große Übereinstimmung zwischen Geschäftsführung, Aufsichtsrat, Belegschaft und mir als Oberbürgermeister und als Aufsichtsratsvorsitzender erreicht, die sich auch auszahlt. Die ökologische Grundausrichtung ist ein ganz wichtiger Standortfaktor, belegt durch Kundenbefragung. Mit den Stadtwerken versorgen wir eine hohe Quote von 90 Prozent aller Stromkunden im Stadtgebiet. Die Menschen hier sagen: Das ist unser Stadtwerk. Dieses hat eine ökologische Grundausrichtung. Die tragen wir mit. Natürlich gibt es ein paar größere Kunden, die sich anderswo versorgen. Was wir neu beschlossen haben ist daher keine Nachsteuerung sondern umgekehrt eine Vorgabe, weil wir die Ziele schon erreicht haben. Nun haben wir ehrgeizigere Ziele gemeinsam festgelegt. Ohne Widerstände, sondern aus Überzeugung.
Sollte Tübingen nicht auch eine 100-Prozent-Versorgung mit erneuerbaren Energien demonstrieren können, etwa so wie beim Forschungsprojekt New 4.0 für Hamburg und Schleswig-Holstein? Das gerade begonnene Großprojekt der beiden Bundesländer ganz im Norden soll zeigen, wie die Großregion mit 4,5 Millionen Einwohnern sich schon 2035, auch dank intelligenter Netztechnologie sicher und zuverlässig rein durch Grünstrom versorgen kann.
Palmer: Ich glaube nicht, dass das Aufgabe einer relativ kleinen Stadt wie Tübingen ist. Es gibt hier leider auch keine Energieforschung. Unser Schwerpunkt ist die innovative Realisierung vorhandener Technik.
Als Modell für eine Smart-Grid-Anwendung, also intelligente Netze, eignen sich aber doch auch kleinere Städte?
Palmer: Stimmt. Aber bei Smart Grid ist mein Eindruck, dass es bisher sehr unwirtschaftlich ist, einen hohen Zuschussbedarf hat und im Rahmen der Energiewende noch kaum Benefits sichtbar sind. Lastmanagement von Privathaushalten abgesehen von der Waschmaschine ist auch nicht so relevant. Hier spielt noch keine Musik. Das Rollout von Smart Grid kann auch ein kleines Stadtwerk nicht besser als ein größeres Unternehmen. Wir versuchen aber, das Thema in unserem Verbund namens Südweststrom zusammen mit anderen Stadtwerken in Angriff zu nehmen.
Das Gespräch führte Tilman Weber