Um mit den 300 Gigawatt (GW) Windkraftkapazität in den Seegebieten der Mitgliedsländer den Kontinent effizient zu versorgen, wie sie die Europäische Union (EU) bis 2050 vorsieht, braucht es ein komplett neues schnelles und modulares Übertragungsnetz. Wie das aussehen soll und funktionieren kann, entwickeln nun vier Jahre lang Stromnetzkonzerne, wissenschaftliche Institute, Windenergiefirmen, Technologieunternehmen und Organisationen von Netzbetriebs- und Windenergiewirtschaft. Im EU-Horizon-Entwicklungsvorhaben „Enabling interoperability of multi-vendor HVDC grids“ (Interopera) erarbeiten diese Akademien, Unternehmen und Organisationen für das zukünftige kontinentale Meereswindstromnetz nun technische Standards sowie wirtschaftliche, rechtliche und regulatorische Rahmenbedingungen und Beschaffungsstrategien.
Das Interopera-Netz soll demnach einer hocheffizienten Hochspannungsgleichstrom-Übertragung (HGÜ) des Meereswindstroms in wechselnden Richtungen dienen. Das Konzept, so legen es die Beschreibungen der EU und auch des für die Öffentlichkeitsarbeit zuständigen europäischen Windenergieverbandes Wind Europe nahe, steht grob fest: Jeder dritte Offshore-Windpark soll demnach mit HGÜ-Verbindungen in mehreren Himmelsrichtungen mit anderen Offshore-Windparks verbunden sein oder an mindestens zwei nationale Stromnetze andocken. Wind Europe nennt solche Turbinenfelder auch Hybrid-Windparks.
Die Netze würden dann die elektrische Energie von den weit verstreuten Standorten der jeweils windabhängig auf- und abschwellenden Stromerzeugung und je nach regional unterschiedlich ab- und zunehmendem Verbrauch mal in die eine und mal in die andere Richtung transportieren. Einige der Hybrid-Windparks würden auch mit Stromspeichern sowie direkt am Seestandort angeschlossenen Wasserstoff-Elektrolyseuren ausgestattet sein, die überschüssig erzeugte Elektrizität wegpuffern oder in den vielseitigen emissionsfreien Energieträger Wasserstoff umwandeln. Grüner Wasserstoff soll künftig die Wind- als auch Solarenergie auch in Energieverbrauchssektoren außerhalb der Stromversorgung wie dem Verkehr oder den Industrieprozessen als Treib- und Prozessstoff nutzen lassen.
20 Partner aus 9 EU-Mitgliedsländern gehören dem Projekt an, darunter die sieben Übertragungsnetzbetreiber Tennet, Amprion und 50 Hertz aus dem deutschen Übertragungsnetz, Tennet auch als Eigentümer-Konzern des niederländischen Übertragungsnetzes sowie RTE aus Frankreich, Terna aus Italien, Statnett aus Norwegen und Energinet aus Dänemark. Als beteiligte Windturbinenfertiger sind die bei Offshore-Windenergieanlagen führenden Vestas und Siemens Gamesa dabei. Außerdem beteiligen sich die Offshore-Windstrom-Unternehmen Vattenfall aus Schweden, Ørsted aus Dänemark und Equinor aus Norwegen sowie die Netz- und Spannungstechnologie liefernden Siemens, GE, Hitachi Energy, Scibreak. Wissenschaftliche Begleitung leisten die niederländischen Hochschulen TU Delft und Universität Groningen sowie das französische Supergrid Institute. Wie Wind Europe für die Windbranche steuert ebenfalls aus Belgien heraus auch der Netzbetreiberverband T&D Europe die Öffentlichkeitsarbeit.
Die EU versorgt das 69 Millionen Euro schwere Projekt mit einem Zuschuss von 50 Millionen Euro. 19 Millionen Euro sollen die beteiligten Akteure aufbringen. Damit gehört Interopera zu den am meisten geförderten Vorhaben des Horizon-Europe-Programms, mit dem die EU eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents vorantreiben soll. Der lange Titel von Interopera gibt die Richtung vor: Enabling interoperability of multi-vendor HVDC grids lässt sich zu Deutsch grob übersetzen als „HGÜ-Netze mit vielen (Strom-)Anbietern dazu befähigen, unabhängige, verschiedene Systeme nahtlos zusammenwirken zu lassen“. Technisch geht es darum, dass die HGÜ-Leitungen und die Umspannstationen im richtigen Takt zusammenwirken und die Netzsteuerung über die gesamte Infrastruktur hinweg gut funktioniert – obwohl die Bestandteile von unterschiedlichsten Zulieferern stammen.
Auch die Fähigkeit der Umrichter zur Stützung der Strom- und Spannungskurven und zur Stabilisierung der Frequenz gehören zu den Aufgaben. Während herkömmliche Kraftwerke mit sehr großen Turbinen direkt ans Stromnetz angeschlossen sind haben Windenergieanlagen genauso wie Photovoltaik-Kraftwerke die Strom- und Umrichter zwischengeschaltet. Diese takten als leistungselektronische Mittel die wetterabhängig schwankenden Grünstrom-Spannungs- und Stromkurven in saubere Sinuskurven und mit den Frequenzen im Stromnetz gleich. Künftig müssen die Umrichter auch den Vorteil der Großturbinen großer konventioneller Kraftwerke ausgleichen: Mit der Trägheit ihrer rotierenden Massen gleichen sie unruhige Frequenzen und Kurven wieder aus. Umrichter können diesen Effekt gezielt nachstellen. Außerdem können sie die Stromqualität im Netz durch mitschwirrende und nicht durch Stromabnehmer nutzbare Blindleistung immer neu bereinigen.