Wie Senvion heute Morgen erklärt, gibt Geißinger sowohl sein Amt als Vorstandsvorsitzender als auch das des Geschäftsführers ab. Ein Nachfolger ist noch nicht ausgewählt. Daher soll der bisherige Financhef Kumar Manav Sharma bis dahin als Interim-CEO die Geschäfte führen, während Verkaufschef David Hardy für Geißinger in den Vorstand nachrücken wird. Über genaue Fristen und Gründe machte Senvion keine Angaben – auch nicht, wie schnell Geißinger sein Büro verlassen wird oder bis wann das Unternehmen die neue wichtigste Führungsperson gefunden und eingesetzt haben will. Wörtlich erklärt die Pressestelle des Unternehmens nur, Senvion gebe „bekannt, dass der Vorstandsvorsitzende Dr. Jürgen Geißinger mit Zustimmung des Aufsichtsrats von seiner Position zurücktreten wird. … Die Suche nach einem Nachfolger für Dr. Jürgen Geißinger ist bereits auf einem sehr guten Weg.“
Senvion stellt den Wechsel an der Firmenspitze lediglich in einen Zusammenhang mit dem Fortschritt der eigenen bisher zweijährigen Konsolidierungsphase und der damit verbundenen strategischen Neuausrichtung des Geschäfts. „Mit der heutigen Bekanntmachung“, läuten die Hamburger erklärtermaßen „die nächste Phase des Wachstumskurses und der internationalen Expansion des Unternehmens ein“.
Das langjährige Deutschlandmarktdritte unter den deutschen Windturbinenherstellern hatte 2015 nach dem Verkauf durch den bisherigen indischen Mutterkonzern Suzlon an die amerikanischen Finanzinvestoren Centerbridge und den indischen Fonds Arpwood einen scharfen Kurswechsel hinter sich gebracht. Zunächst wechselten die neuen Eigentümer vor ziemlich genau zweieinhalb Jahren den bisherigen Vorstandsvorsitzenden Andreas Nauen gegen Jürgen Geißinger aus, der von 1998 bis 2013 Chefmanager des Wälzlagerherstellers Schäffler war. Dann vollzog das Unternehmen eine Vielzahl strategischer Maßnahmen, um auf einen schärfer werdenden Wettbewerb und stark sinkende Gewinnmargen der gesamten Branche zu reagieren. Auch zunehmend unklare Rahmenbedingungen auf dem deutschen Markt, bisher eines der oder gar das wichtigste Windrad-Verkaufsland Senvions, sowie im Vergleich zu den Wettbewerbern zuletzt zu langsame technologische Fortentwicklungen des Windenergieanlagen-Portfolios ließen die neuen Senvion-Eigentümer und den neuen Senvion-Vorstandschef Geißinger das Ruder seither herumreißen.
Senvion folgt seither einem Konsolidierungs- und Internationalisierungskurs mit der Erschließung neuer Märkte und neuer internationaler Fertigungs- und Forschungsstandorte bei einem zwischenzeitlichen Umsatzrückgang – und dem Schließen einiger nicht mehr rentabler Werke in Deutschland. Hunderte Arbeitsplätze fielen damit in Deutschland weg. 2019 soll das Stichjahr werden, in dem Senvion wieder in die Gewinnzone zurückkehrt. Seit 2017 nehmen die Aufträge wieder stark zu. Noch vor wenigen Tagen, am 15. Mai, hatte Senvion eines der stärksten neuen Auftragseingangsvolumen in einem ersten Quartal gemeldet. Der Aktienwert des Unternehmens, das Geißinger 2016 nach zwei Anläufen an die Börse gebracht hatte, steigt wieder leicht seit dem 17. Dezember 2017. Allerdings ist der Startwert von gut 16 Euro pro Wertpapier mit dem Aktienstand von gestern bei 11,7 Euro noch fern.
Geißingers Abschied von Senvion löste heute Vormittag auch in den führenden deutschen Wirtschaftsredaktionen offenbar Rätselraten aus. Ein „überraschender Führungswechsel“ ist es beispielsweise aus Sicht der Zeitung Handelsblatt. Die Rücktrittsankündigung ging jedenfalls bis kurz vor Mittag einher mit dem Fall des Aktienwertes um rund einen Euro, weil offenbar Wertpapierbesitzer zunächst Anteile abstießen.
Noch im Januar hatte der knapp 60 Jahre alte Spitzenmanager Geißinger einen für ihn wichtigen Sieg vor dem Landesarbeitsgericht in Nürnberg erreicht. Die Justizbehörde der regionalen Metropole in unmittelbarer Nachbarschaft zum Schäffler-Firmensitz Herzogenaurach wies Anschuldigungen und Schadensersatzforderungen des Wälzlagerkonzerns an seinen Ex-CEO zurück, dieser habe sich im Zusammenhang mit Bestechungsgeldern aus den Kassen eines türkischen Schäffler-Tochterunternehmens mitschuldig gemacht. Der Allianz-Konzern soll als Versicherer den ehemaligen Arbeitgeber Geißingers zuvor gedrängt haben, eine Berufung zurückzuziehen. Die Allianz habe noch höhere für Versicherungszahlungen befürchtet, denn Geißinger war als Schäffler-Manager bei ihr offenbar gegen Unkosten durch Management-Fehler versichert, so schrieb im Januar ebenfalls das Handelsblatt.
"Nach erfolgreichem Turnaround Mission erfüllt"
Auf Nachfrage von ERNEUERBARE ENERGIEN antwortete Firmensprecher Immo von Fallois am Mittwochmittag, dass Geißinger "nach erfolgreichem Turnaround seine Mission erfüllt sieht". Die angestrebte "Globalisierung" des Firmengeschäfts sei auf einem "sehr guten Weg". Senvion sei zu einer "globalen Company geworden". Im ersten Quartal sei bezeichnenderweise "Indien größtes Order-Intake-Land" gewesen. Auf dem südasiatischen Subkontinent und derzeit viertgrößten Windenergiemarkt der Welt hatte Senvion nach dem Zukauf des indischen Windturbinenherstellers Kenersys unter der Regie von Centerbridge zuletzt verstärkt Fuß gefasst. Somit "ist alles erreicht worden bis auf den Merger", betonte von Fallois. Die immer wieder kolportierten Pläne von Centerbridge, Senvion nach erfolgreicher Konsolidierung wieder zu verkaufen, stünden zwar noch vor ihrer Umsetzung. "Doch das wird noch laufen." Senvion setze nun darauf, dass die neue Unternehmensspitze "in ein paar Monaten" installiert sei.
Das Handelsblatt meldete kurz vor Mittag zudem noch, dass Geißingers Abschied zwischen ihm und dem Eigentümer Centerbridge mit dem Einverständnis der Amerikaner erfolgt sei. Angeblich will sich der Ex-CEO nun beruflich neu orientieren und damit in absehbarer Zeit an die Öffentlichkeit treten.
(Tilman Weber)