Der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition liegt seit wenigen Wochen vor: Woran knüpfen Sie darin die meisten Hoffnungen? Was ist es erstens, zweitens, drittens?
Christian Mildenberger: Zuallererst die geplante Festschreibung im Gesetz, dass nun die Erneuerbaren zu öffentlicher Sicherheit und Versorgungssicherheit beitragen. Dies bedeutet einen großen Schritt für eine entsprechende höhere Gewichtung bei der Abwägung, also eine Höherbewertung, wenn Genehmigungsbehörden über neue Energieanlagenprojekte entscheiden müssen. Große Hoffnung macht mir auch, das mit insgesamt 80 Prozent Anteil der Erneuerbaren an der Stromversorgung bis im Jahr 2030 ein klares Ziel für den Anlagenausbau angekündigt wird – das heißt unter anderem mindestens neun Gigawatt Windkraftausbau bundesweit pro Jahr. Der dritte Punkt im Koalitionsvertrag ist für mich der Aufbruch ins solare Zeitalter mit einem geplanten Ausbau auf 200 Gigawatt Solarenergie bis 2030, was ausgehend von aktuell etwa 55 Gigawatt gut eine Vervierfachung der PV-Kapazität bedeuten wird. Solar wird somit das neue Normal, auf allen Dachflächen, aber auch in der Freifläche.
Der neue NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst von der CDU hat erstmal 50 Prozent Erneuerbare an der Stromerzeugung und einen früheren Kohleausstieg jeweils bis 2030 als machbar bezeichnet. Was muss technisch passieren, dass dies so kommen kann – bezüglich Speicher, Einspeisemanagement, Digitalisierung, Laststeuerung?
Christian Mildenberger: Das Konzept dafür heißt ganz klar Ausbau, Ausbau, Ausbau. Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung in Berlin hat klar gemacht, dass die Maßnahmen den neuen Ausbauzielen angeglichen werden. Wir müssen demnach im Planungsrecht davon wegkommen, für jede einzelne Anlage den Naturschutz, den Anwohnerschutz, seismologische Messungen zu diskutieren. Die Maßnahmen dafür liegen dank des Koalitionsvertrages klar auf dem Tisch.
Und was technisch passieren muss? Ich bin gelernter KfZ-Mechaniker und Wirtschaftsingenieur und kann Ihnen versichern: Wir haben kein Technikproblem. Die Technik ist da, und sie wird funktionieren. Wir haben Speicher, wir haben das Lastmanagement. Alleine der Aluminiumkonzern Trimet erzählt in jeder gemeinsamen Runde, an der ich dabei bin, welch hohes Potenzial zur Laststeuerung sie haben, aber derzeit über die Netzentgeltregelung gar keinen finanziellen Anreiz zu seiner Nutzung. Wir haben ein Regulatorikproblem – und das müssen wir jetzt lösen in Form eines 100-Tage-Programms der Ampel. Aber auch dergestalt, dass wir im ersten Jahr alle für die technologische Umgestaltung der Stromversorgung notwendigen Bundesgesetze auf den Prüfstand stellen. Denn wir müssen es wie angedeutet nur umsetzen: Bei der Bioenergie müssen wir die gegebenen technischen Möglichkeiten zur stärkeren Flexibilisierung der Anlagen nutzen, um auf die schwankende Einspeisung von Windenergie- und Photovoltaikanlagen reagieren zu können und damit alles auszusteuern. Und wir bekommen zu den technischen Mitteln jetzt noch Wasserstoff als weitere Flexibilitätsgröße dazu ...
Sind zwei Prozent Flächenausweisung für Windparks in NRW, wie von der neuen Regierungskoalition im Bundestag für ganz Deutschland verlangt, in NRW überhaupt denkbar, angesichts der auf Betreiben der Landes-FDP eingeführten 1.000 Meter Mindestabstand für NRW-Windparks zu Siedlungen? Welche korrigierenden Stellschrauben sind dafür zu drehen?
Christian Mildenberger: Der LEE NRW hatte vor der Sommerpause eine eigene Studie zu den Ausbauchancen unter den im Land geltenden Rahmenbedingungen einschließlich der neuen 1.000 Meter Mindestabstand vorgestellt. Darin kommen wir zum Schluss, dass sie nur einen Ausbau auf 0,7 Prozent der Landesfläche zulassen. Nun kann sich die Landesregierung überlegen, an welchen Stellschrauben sie dreht: Sie könnte die fehlende Nutzungsmöglichkeit der Wälder beenden, die durch Landesregelung derzeit tabu sind, so lange sich anderswo für Windkraft substanziell Raum schaffen lässt. Ansetzen ließe sich noch an weiterem: Der Geologische Dienst verlangt derzeit sehr restriktive Mindestabstände für Windparks zu seismologischen Stationen zur Erdbebenmessung um sich herum, angeblich um nicht durch Windradvibrationen gestört zu werden. Auch um Drehfunkfeuer für Flughäfen sind große windkraftfreie Kreise mit 15 Kilometer Sicherheitsradius gezogen. Auf Bundesebene sollen diese Hindernisse nun sehr schnell reduziert werden, heißt es von der Ampel. Und an den Arten- und Naturschutz müsste die Politik ran. Es ist also ein Maßnahmenpaket, das die Landesregierung sehr schnell auf den Weg bringen sollte. Sie muss jetzt sagen, wie sie das anpackt.
Und bis wann erwarten Sie, dass sie so etwas vorlegt?
Christian Mildenberger: Vor dem Hintergrund der Landtagswahlen am 15. Mai und angesichts des großen Ambitionen der neuen Bundesregierung glaube ich, wäre die Landesregierung gut beraten, in den nächsten Wochen und Monaten zu skizzieren, wie sie sich das vorstellt. Ansonsten wird das Thema sehr kontrovers im Wahlkampf diskutiert werden. Thomas Kutschaty, der Landesvorsitzende der SPD NRW und höchstwahrscheinliche Spitzenkandidat seiner Partei, hat bei uns auf den Windenergietagen NRW gesagt, dass er die 1.000-Meter-Regelung in NRW abschaffen will. Sollte die heutige Landesregierung es schuldig bleiben, zu sagen, wie sie die zwei Prozent der Landesfläche für Windkraft garantieren will, wird das ein großes Wahlkampfthema werden.
Derzeit gehört NRW noch zu den führenden Windkraftausbauländern. Wird es zum Einbruch das Zubaus als Folge der in der Branche heftig kritisierten 1.000-Meter-Abstandsregel und anderer von Ihnen schon genannter negativer landespolitischer Begleitmusik kommen? Wann sehen Sie hier eine Kerbe in der Ausbaukonjunktur?
Christian Mildenberger: NRW war beim Ausbau bundesweit zuletzt führend, ja, das stimmt. Aber er war und ist viel zu gering. Gemäß neuesten Zahlen werden es in diesem Jahr nur 300 bis 350 Megawatt sein. Das ist immer noch nur ein Drittel der benötigten 900-1.000 MW. Und andere Länder wie Schleswig-Holstein haben 1.000 MW Genehmigungen in diesem Jahr erreicht. Niedersachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern erreichten ähnliche Werte, so dass wir in NRW beim Ausbau schon bald weit zurück fallen werden, sofern die Landespolitik nicht nachsteuert.
Sie haben jüngst so etwas wie einen Tabubruch begangen – und gegen einen Naturschutzverband demonstriert. Was erhoffen Sie sich davon?
Christian Mildenberger: Wir sehen das weniger als Tabubruch, sondern als einen Akt der Notwehr. Der Naturschutzbund in NRW, der Nabu, war der Adressat unserer Demonstration. Dieser Verband geht sehr, sehr hart gegen viele Windparkprojekte vor – bis zur Klage. Ein besonders absurdes aktuelles Beispiel ist ein Projekt, für das sich die Macher und Unterstützer des Projekts mit dem Nabu auf eine Genehmigung unter 111 Auflagen geeinigt hatten. Und danach hat der Nabu die notwendige Trafostation für diesen Windpark beklagt. Auf diese Verhinderungstaktik des Nabu NRW wollten wir hinweisen. Alleine 500 Megawatt Windkraftleistung werden derzeit durch diverse Einsprüche bis hin zu Klagen von Naturschutzseite verhindert, das sind über 100 Anlagen. Wir fordern vom Nabu NRW, jetzt ein eigenes Energiekonzept vorzulegen, das die Einhaltung der Klimaschutzziele von Paris ermöglicht.
Haben sie brancheninterne Widerstände dagegen erlebt, erstmals gegen einen Naturschutzverband zu protestieren? Sie dürften dadurch einen Stein ins Wasser geworfen haben, der womöglich noch Kreise zieht.
Christian Mildenberger: Ja. Aber es gab keine Bedenken bei uns oder Widerstände. Wir erhielten nach der Aktion stattdessen viel Lob. Denn was Mitlieder und Branchenvertreter inzwischen durch solche Manöver zu ertragen haben, übersteigt jedes zumutbare Maß. Bei kleinen Wasserkraftanlagen können sich die Projekte wegen dieser Widerstände sogar auf bis zu 20 Jahre bis zur Genehmigung hinziehen.
Wie wollen Sie hier weiter vorgehen – und lassen sich Konflikte zwischen Energiewende und Naturschutz oder Klimaschutz und Naturschutz nicht einzig staatlich und gesetzlich zu regeln?
Christian Mildenberger: Nein, das glaube ich nicht. Ein Grundsatz ist nicht wegzudiskutieren: Klimaschutz ist Artenschutz. Wenn ich aber nur einzelne Vögel schütze, ist das noch lange kein Klimaschutz. Wenn wir beim Klimaschutz nicht schnell genug vorankommen, werden diese Vögel umgekehrt bald kein Habitat und keine Nahrung mehr haben. Aber natürlich machen auch Erneuerbare-Energien-Unternehmer in den Projekten bereits viel für den Artenschutz, weil wir auch unseren Beitrag gegen die Biodiversitätskrise leisten wollen.
Der Koalitionsvertrag verspricht nun einen Populationsschutz anstelle des Individuenschutzes. Damit wäre das Problem geregelt. Wozu wollen sie dann noch vor Ort das Gespräch mit Naturschützern?
Christian Mildenberger: Wir sind und werden gleichwohl in Gesprächen mit dem Naturschutz sein, bisher mit dem Präsidenten vom Deutschen Naturschutzring oder mit dem BUND. Wir haben auch viele gemeinsame Aktionen in den vergangenen Jahren gemacht. Ich glaube, es braucht beides: Es braucht eine gesetzliche Nachjustierung in Richtung Populationsschutz. Es braucht aber auch eine vernünftige Haltung der Akteure vor Ort, um zu Lösungen vor Ort zu kommen. Denn der Naturschutz ist ja nicht abstrakt, und die Projekte sind nicht abstrakt, sondern die finden vor Ort unter konkreten Bedingungen statt. Und deshalb müssen wir immer wieder vor Ort vernünftig miteinander umgehen. Und deshalb sind uns unsere Forderungen an den Nabu NRW zu einem anderen Umgang so wichtig.
Die Ampelregierung in Berlin will durch die Neugestaltung des Strommarktes auch Deutschlands Wasserstoff-Offensive starten. Was braucht NRW, damit es wie von der schwarz-gelben Landesregierung gewollt zum führenden Wasserstoffland wird?
Christian Mildenberger: Wir brauchen vor allem einmal einen realistischen Blick darauf. Das Wuppertalinstitut hat mit dem Institut der Wirtschaft aus Köln eine neue Studie veröffentlicht mit der Botschaft: Es ist sehr gefährlich, auf Wasserstoffimport zu setzen, wenn die Infrastruktur für eine Wasserstoffwirtschaft nicht vorhanden sein wird. Die NRW-Landesregierung muss verstehen, dass wir nur zum Wasserstoffland werden, wenn wir den Wasserstoff überwiegend heimisch produzieren. Da liegt die große Chance für Nordrhein-Westfalen: Den Bedarf der hiesigen Industrie mit heimischem Wasserstoff abzudecken. Und hier sollte sie nicht Must-Run-Kapazitäten von Elektrolyseuren schaffen, die dann 6.000 bis 8.000 Stunden im Jahr durchlaufen. Sondern sie sollte sie als Flexibilitäten begreifen. Trotzdem kann hintendran mit Speichern die Wasserstoffversorgung abgesichert werden. Hierfür muss aber ein Umdenken in Düsseldorf erfolgen, weg von dieser Importfixierung hin zur heimischen Potenzialhebung zu kommen. Das muss nun sehr schnell gehen, um im Wettbewerb mit anderen Regionen und Ländern nicht in Rückstand zu geraten. Andere internationale Länder sind hier schneller …
Welcher Ausbau der einzelnen Erneuerbare-Energien-Technologien wäre im Land zu leisten, um wenigstens die anvisierten 50 Prozent der Grünstromversorgung bis 2030 zu schaffen?
Christian Mildenberger: Wir brauchen einen jährlichen Mindestzubau von zwei Gigawatt Photovoltaik und von mindestens 1.000 MW Windkraft. Das bedeutet eine Verdreifachung des aktuellen Windenergieausbaus und eine Vervierfachung bei den PV-Installationen. Außerdem sind derzeit 450 MW Bioenergie-Stromkapazitäten am Netz in NRW. Hier müssen wir auch zubauen, aber vor allem die Anlagen weiter flexibilisieren. Wir benötigen eine stärkere Überbauung dieser Leistung. Aus einer 500-kW-Anlage wird so eine 2,5-MW-Anlage, die aber viel weniger Strom im Jahr produziert. Sie sind mit Wärmespeichern nachzurüsten, um eine Wärmeversorgung mit zu gewährleisten. Aber für den Hinterkopf: Es gab ja schonmal einen Bruttozubau von Windenergie an Land in NRW im Jahr 2017 von 900 MW. Was der LEE NRW hier fordert, ist also kein Wolkenkuckucksheim.
NRW ist als führendes Industrieland nicht nur ein besonders interessanter Energiewendestandort, weil hier die Industrie mit neuen Stromabnahmekonzepten oder als Wasserstoffnachfrageseite wichtige Impulse gibt. Auch die Zuliefererindustrie sitzt hier. Und sie ist dringend auf Exportmärkte angewiesen. Welche negativen und positiven Perspektiven sehen Sie für sie in NRW?
Christian Mildenberger: Wir sehen jetzt nur positive Effekte einer neuen Marschroute, die bundesweit endlich klar ist. Und ich glaube, das wird sich in den nächsten Monaten viel stärker auch in der Landespolitik abzeichnen. Eine aktuelle Studie, die wir an den Landeswirtschaftsminister Andreas Pinkwart übergeben haben, analysiert die derzeitige und skizziert die zukünftige Beschäftigungs- und Wertschöpfungsaspekte der Windindustrie in NRW, je nach Ausbaupfad. Wir können hier bis zu 3.000 Arbeitsplätze in den nächsten zehn Jahren schaffen, wenn diese Marschroute sich jetzt verfestigt. Und durch die Photovoltaik werden wir zusätzlich noch wesentlich stärkere Beschäftigungs- und Wertschöpfungseffekte sehen. Hier wird vor allem das Handwerk profitieren.
Ist denn die neue Klimaaußenpolitik wie sie im Koalitionsvertrag steht eine gute Perspektive für die NRW-Exportwirtschaft der Erneuerbaren?
Christian Mildenberger: Wir erhoffen uns davon positive Effekte, klar. Eine Klimaaußenpolitik kann der Welt zeigen, um welche Chancen es geht. Und das beinhaltet Chancen für die Exportwirtschaft in Nordrhein-Westfalen. Eine Klimaaußenpolitik wird aber für Europa auch klar machen müssen, dass sowohl Atomenergie als auch Erdgas lediglich reine Übergangstechnologien sind. Und dass es diejenigen, die das schlecht umsetzen, sehr viel Geld kosten wird. Hier liegt nun aber eine Herausforderung zum Beispiel einem Land wie Polen gegenüber, das nicht so viel Geld übrig hat. Da hilft Klimaaußenpolitikern kein moralischer Zeigefinger, sondern eine Veranschaulichung der (wirtschaftlichen) Chancen der Energiewende. Hier wird es darauf ankommen, dass sie sich nicht nur auf den großen internationalen Konferenzen äußert, sondern dass sie zwischen solchen großen Terminen sehr viel mit dem Partner spricht, Reisen zum Austausch und zur Veranschaulichung von Praxisbeispielen organisiert.
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