In einer Diskussionsrunde im Rahmen der Tagung Zukünftige Stromnetze erklärte Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energie (BEE), sie habe die Eröffnungsbilanz von Bundeswirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck positiv aufgenommen: „Endlich werden die Realitäten von der Regierung erkannt.“ Der BEE habe schon seit drei Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass der Stromverbrauch künftig deutlich steigen werden – schon allein wegen der großteils zu elektrifizierenden Sektoren Wärm und Verkehr. Stichwort Sektorkopplung – daher sei ein integriertes System anzudenken, so Peter. Das habe ihr im vorangegangenen Vortrag von Wirtschaftsstaatssekretär Patrick Graichen gefehlt. Sie fragte in dem Zusammenhang: „Kriegen wir mehr Dezentralität und Flexibilität hin?“ Mit anderen Worten, es muss gelingen, das Energiesystem so umzustellen, dass Verbrauch und Produktion schon regional auf einander abgestimmt werden, sodass die Netze entlastet werden. Elektroautos müssten entsprechend idealerweise dann geladen werden, wenn die Sonne scheint – nicht abends nach Feierabend, sondern tagsüber. Die von Graichen angekündigte Plattform, die die Basis für solch ein integriertes Energiesystem sein soll, müsse nun laut Peter schnell kommen.
Hans-Martin Henning, Institutsleiter des Fraunhofer ISE, stellte zunächst fest, dass die Klimaziele der Bundesregierung 2021 verfehlt wurden. Und dies werde wohl auch 2022 und 2023 der Fall sein – zumindest würden die Ziele nicht in allen Sektoren erreicht. Stichwort Wärme – der immer noch schlafende Riese. Er wies darauf hin, dass die vorgesehenen Instrumente eine Vorlaufzeit hätte. Es gebe etwa lange Genehmigungsprozesse. Die Regierung kann also nicht gleich von Null auf 100 kommen, nachdem die alte Regierung 16 Jahre lang Stillstand gepflegt hatte. Und denn, so Henning: „Ich bin sehr optimistisch, dass wir mittelfristig unsere Ziele erreichen können.“ Zumal die neue Regierung das Thema extrem ernst nehme. Auch er betonte: „Wir brauchen einen Paradigmenwechsel – weg von einem System, wo Verbrauch von Erzeugung gedeckt wird. Hin zu Flexibilisierung. Wir brauchen ein Strommarktdesign, das diesen Wechsel vollzielt. Wir brauchen Flexibilisierung auf allen Ebenen.“
Carsten Rolle, Abteilungsleiter Energie- und Klimapolitik im BDI, stellte in dem Zusammenhang fest, eine der größten Herausforderungen sei die massive Erhöhung des Tempos bei Genehmigungen. Derzeit sind es bei der Windparkplanung eher drei bis sechs Jahre, Kanzler Scholz sprach bereits von der Notwendigkeit einer Verzehnfachung der Geschwindigkeit. Rolle fügte an: „Jetzt müssen wir weg von der Zieldiskussion und in die Umsetzung gehen.“ Er geht davon aus, dass beim Naturschutz das Genehmigungstempo gesteigert werde, weil ein Grünes Ministerium auf höhere Akzeptanz von Naturschützern treffen müsste. Dies sei eine Chance der Koalition. „Bei den artenschutzrechtlichen Genehmigungen braucht es einen neuen Geist. Wir müssen die Beweislast umkehren“, so Rolle.
Er sprach sich dafür aus, die Energiewende vom Ende her zu denken, so wie es derzeit immer mehr Studien und auch die Regierung tun – also sehen, was 2045 die Realitäten sein müssen und von dort zurück bis in die Gegenwart planen. Ein wichtiger Aspekt dabei: Dass Netze gemeinsam gedacht werden müssen. Anreize müssten in einem i Marktdesign geschaffen werden – um die Netzentwicklung in die richtige Richtung zu lenken.
Thomas Dederichs, Leiter Energiepolitik bei der Amprion GmbH, verwies auf den wichtigen Aspekt der Versorgungssicherheit in der nächsten Entwicklungsphase. „Wir starten mit 550 Terawattstunden und enden mit 1.000 bis 1.100 TWh“, so Dederichs bezüglich der prognostizierten Zunahme des Strombedarfs. „Wir dürfen uns keine Fehler erlauben.“ Im Moment gebe es fast täglich Abweichungen im Netz, etwa Frequenzsprünge. Früher sei das nur alle paar Jahre vorgekommen. „Wir begeben uns hier auf unbekanntes Terrain. Deutschland geht einen Sonderweg“, erklärte Dederichs mit Blick auf Atom- und Kohleausstieg. „Wir brauchen volle Flexibilität.“ Da müsse man zum Beispiel auch die Vergütungsfrage klären beim Thema Systemdienstleistungen wie der Abgabe von Blindleistungen. Anreize müssen hier geschaffen werden. Für den Übergang werde es Gas geben. Dederichs sagte, auch der Abtransport der geplanten 70 Gigawatt Offshore-Wind würden ihm Sorge bereiten. Was die Beschleunigung von Genehmigungen anbelangt, warte er auf das neue Wind-an-Land-Gesetz und eine Einschränkung der Partizipation. Gemeint war, dass bestimmte bremsender Faktoren – etwa dauerklagende Umweltverbände, in ihren Möglichkeiten beschränkt werden müssten. Simone Peter sagte, nicht eine Beschränkung der Partizipation sein wichtig, sondern eine Standardisierung der Genehmigungen statt des bisherigen Flickenteppichs. Ein Bundesgesetz müsse her und mehr Genehmigungspersonal. „Wenn gemeinsam Lösungen gesucht werden, bin ich optimistisch. Es gibt viele einfache Maßnahmen zur Genehmigungsbeschleunigung, etwa bei den Flugsicherheitsbehörden.“
Rolle unterstrich, wie wichtige die Stromqualität für die Industrie sei. In der Papierindustrie würde eine Millisekunde Stromausfall gleich dazu führen, dass die Papierrolle reiße – ein Riesenproblem für die Produktion. Er verwiese noch darauf, dass die Bundesnetzagentur nicht weiter wie bisher nur auf Kostenoptimierung im Sinne des Verbraucherschutzes schauen dürfe. Es gebe einen enormen Investitionsbedarf beim Thema Digitalisierung auf der Verteilnetzebene.
Simone Peter betonte die wichtige Rolle des Biogases, das einen Beitrag zur Flexibilisierung des Systems leisten könne. ISE-Chef Henning ergänzte, die erneuerbaren Energien müssten bereits in ihrer Region möglichst systemdienlich eingesetzt werden. „Das liegt brach, weil es regulatorisch aufwändig ist.“ Auch Bürger sollten an der Systemdienlichkeit teilhaben, so Peter. „15 Millionen E-Autos bis 2030 sind realistisch“, hier sei eine Kopplung mit Mieterstrom möglich, die eine Entlastung schaffe.
Eine Entlastung der Verbraucher werde auch die Wegnahme der EEG-Umlage vom Strompreis bringen. „Das ist eine gute Sache“, so Henning. „Die Preiserhöhungen, die wir jetzt gerade haben, ist nicht die Schuld der Energiewende. Im Gegenteil: Es sei gut, auf Erneuerbare zu setzen für eine finanzielle Unabhängigkeit etwa vom Ausland.