Tilman Weber
Wieder einmal mussten die Windenergieanlagen des Windparks bei Fuchstal am Lech am Sonntag ihre Leistung drosseln, obwohl das Stromnetz nicht weit von hier die volle Einspeiselast eines 1,3 Gigawatt (GW) starken Atomkraftwerks bedenkenlos aufnahm. Doch hier im oberbayerischen Land südwestlich von München schalten Windturbinen nicht wie an der Nordseeküste wegen zu üppiger Windstromerzeugung und auf Anweisung des Netzbetreibers zum Schutz sonst überlasteter Netz ab. Hier war es vielmehr wie mittlerweile regelmäßig an weit über 100 Stunden im Jahr der von den Turbineneigentümern beauftragte Stromvermarkter, der das Abschalten anwies, wie Robert Sing weiß. Der Chef der Ingenieurbüro Sing GmbH im nahe gelegenen Landsberg ist der führende Projektierer des Bürgerwindparks Fuchstal und Geschäftsführer der Bürgerwindgesellschaft, die allerdings den 116 Kommanditisten gehört. Größte Kommandistin und daher Haupteigentümerin ist die Gemeinde Fuchstal selbst.
Großes Stromüberangebot am Sonntag
Von 9 bis 16 Uhr und damit mehr als sechs Stunden in Folge war der Strom-Spotmarktpreis am vergangenen Sonntag im roten Bereich. Die deutsche Kraftwerkslandschaft inklusive der wetterabhängig auf- und abfahrenden Photovoltaik- und Windenergieanlagen hatte in dieser Zeit demnach mehr Strom produziert, als die auf Sonntagsruhe gedimmte Volkswirtschaft im Land und überhaupt die deutsche Gesellschaft verbrauchte. Richtig ist: Es war ein wind- und sonnenreicher Tag in Deutschland, bei dem wie bisher noch selten sonntags in Deutschland trotz stark zurückgefahrener Erzeugung aus Braun- und Steinkohle- sowie Gaskraftwerken das Einspeisevolumen die Marke von 1,2 Terawattstunden (TWh) deutlich übertraf. Dies war in diesem Jahr zuletzt an einem Sonntag im August sechs Wochen zuvor der Fall und noch einmal sieben Wochen früher zu Anfang Juli. Mehr als 1,2 TWh speisen die gesammelten Kraftwerke Deutschlands sonst häufiger bisher nur in den besonders windreichen Monaten im frühen Frühjahr oder im Herbst ein, wobei dann allerdings auch der Stromverbrauch höher ist – aufgrund kürzerer Tage und mehr Freizeitaufenthalt der Menschen in Räumen statt draußen.
Direktvermarkter regelt Windparks ab, um nicht draufzuzahlen
„Das passiert leider immer öfter“, sagt Robert Sing. „Vergangenes Jahr haben die Abregelungen durch den Direktvermarkter unsere Windparks schon 128 Stunden im Jahr gekostet“, sagt Sing. Die Anweisungen des Spotmarkthändlers beträfen so auch die zwei weiteren durch das Ingenieurbüro Sing projektierten und betreuten Bürgerwindparks in der Region. Und 2020 erfolgte aufgrund des Einbruchs der deutschen Wirtschaftskonjunktur noch einmal ein Sprung auf eine Abschaltdauer von bisher rund 150 Stunden – wohlgemerkt: nach erst einem Dreivierteljahr. Klar, infolge der Coronapandemie und der durch Seuchenschutz weltweit verursachten betrieblichen Einschränkungen war die Stromnachfrage bundesweit eingebrochen „Da werden uns jedes Mal die Anlagen weggeknipst, während sie gerade auf Volllast fahren“, sagt Sing. Statt einer Vergütung der Erzeugung aus den vier Enercon-Anlagen E115 mit jeweils drei MW Volllastleistung für 8,5 Cent pro eingespeister Kilowattstunde (kWh) erhält der Betreiber dann gemäß der Paragraf-51-Regelung im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) noch den mittleren monatlichen Stromhandelspreis im Bereich von derzeit 2 bis 2,5 Cent pro kWh.
EEG 2021 verschärft die Situation
Seit vielen Jahren stehen vor allem die wegen immer üppigerer Windstromeinspeisung überlasteten Netze in Norddeutschland im Fokus energiepolitischer Reformanstrengungen. Das EEG sieht zwar einen Einspeisevorrang von Strom aus Erneuerbare-Energien-Anlagen vor. Allerdings können Netzbetreiber begleitend zum von ihnen angewiesenen Auf- und Abfahren konventioneller Kraftwerke, dem sogenannten Redispatch, auch die Erneuerbaren abregeln. Wenn kurzfristig der Kollaps einzelner Netzstrecken drohen könnte, dürfen sie Wind- und Solarparks vom Netz nehmen. Dies dürfen sie da, wo konventionelle Kraftwerke sich nicht so schnell regeln lassen oder wo ihre Turbinen nur mit unverhältnismäßigen wirtschaftlichen oder technischen Auswirkungen gegen Null gefahren werden müssten. Doch 2017 nahm die Bundesregierung auch erstmals die zunehmenden negativen Börsenstrompreise zum Anlass, um den Vorrang der Einspeisung aus Wind- und Photovoltaikparks weiter zu beschränken. Wenn die Erzeugung höher ist als der Verbrauch, erhalten sie gemäß den Stromhandelspreissignalen nach einer sechsstündigen Minuspreisphase eben keine volle EEG-Vergütung durch die Netzbetreiber mehr. Und in der Novelle für das EEG 2021 will das Bundeskabinett nun sogar nach nur einer Stunde die EEG-Vergütung absetzen.
Echter Wettbewerb um marktgerechte Einspeisung ist blockiert
Das Problem dieser Marktregelung ist allerdings, dass sich die Erneuerbaren-Betreiber im Süden Deutschlands vom Wettbewerb um die geringeren Kosten und die besseren Alternativlösungen ausgeschlossen sehen. Denn die in der Energiewirtschaft unumstritten als bester Ausweg gewürdigte Sektorenkopplung ist durch Steuern und Abgaben und komplizierte bürokratische Regelungen eher verbaut, wie Sing betont: Den überschüssigen Strom in andere Energieformen etwa zur Wärme- oder Treibstoffversorgung umzuwandeln – mit Wassererhitzern in Fernwärmenetzen oder mit Elektrolyseanlagen zur Erzeugung des emissionsfreien Treibstoffs Wasserstoff. Windparkbetreiber Sing spricht von Negtiv-Erfahrungen, die sein Unternehmen derzeit bei der Projektierung einer großen Sektorkopplungs-Wärmeanlage mache.
Auch der zweite Wettbewerb, der schlicht um die besseren Preise und geringeren Kosten, ist aber verbaut: Große Kraftwerke, so wie das eine Stunde Autofahrt entfernte Atomkraftwerk Grundremmingen von Energiekonzern RWE, sind offenbar nicht oder nicht im gleichen Maße von den Negativpreisen betroffen.
Das moniert auch Raimund Kamm, der ehemalige Chef des Landesverbands der Windkraft-Lobbyorganisation BWE. Der Ex-BWE-Bayern-Vorsitzende ist im Zuge einer Zusammenlegung verschiedener Erneuerbaren-Interessenverbände inzwischen Vorsitzender des Landesverbandes Erneuerbare Energie (LEE) geworden. Kamm hat die Datenkurvenverläufe des AKW auf den einschlägigen Monitoring-Webseiten der Branche verfolgt – und keinerlei Reaktionen auf die Preissignale erkennen können. Tatsächlich sind es auch bei den bundesweiten Einspeisedaten einzig die Atomkraftwerke, die ihre Leistung konstant halten. „Vielleicht können die nicht abregeln, weil sonst die Materialien des Kraftwerksbaus zu stark abkühlen und schädlichem Belastungsstress ausgesetzt sind“, sagt Kamm. „Wenn das AKW Gundremmingen und die anderen deutschen AKW so flexibel wären, wie RWE behauptet“, sagt Kamm an die Adresse des Betreiberkonzerns gerichtet, „gäbe es kein Überangebot an der Strombörse und damit keine negativen Strompreise“.
Treffen negative Marktpreise das AKW nicht?
Mehrere verschiedene Interpretationen hat Kamm parat, warum das RWE-AKW offenbar von den negativen Strompreisen nicht oder zumindest nicht ausreichend stark betroffen ist und auf die Preissignale des übersättigten Stromspotmarkts nicht reagiert. „Ein Grund dürfte sein, dass Atomkraftwerke wie Grundremmingen ihren Strom überhaupt nicht an der Strombörse verkaufen“, sagt Kamm. Denn ein Großteil der Erzeugung dürfte schon langfristig über individuelle Verträge zur Belieferung großer Stromkunden oder der Stromversorger verkauft sein, wie es nicht nur Kamm sondern auch andere Branchenexperten analysieren. Insbesondere schirme auch die Belieferung der örtlichen Lech-Elektrizitätswerke (LEW) mit Grundremmingen-Strom das AKW vor den Peisbewegungen an der Strombörse ab: Bis vor kurzem gehörten die LEW noch zu RWE ehe der Konzern im Zuge einer legalen Marktbereinigung die Tochter an Wettbewerbskonzern Eon abtrat. „Hier gehen die Strommengen quasi völlig ohne marktgetriebene Preisbildung der Strombörse direkt over the Counter“ – frei übersetzt also außerbörslich über die Ladentheke wie im örtlichen Einkaufsmarkt.
Ist das Kraftwerk nicht flexibel genug?
RWE nimmt derweil Fragen von ERNEURBARE ENERGIEN hierzu am Telefon freundlich auf, um auf die erbetene Auflistung der Fragen in einer Email auch noch einen Tag später nicht bis zur gewünschten Uhrzeit reagiert, geschweige denn geantwortet zu haben. Die zunächst nicht beantworteten Fragen lauten: Warum ist das Atomkraftwerk nicht so sehr von den Preissignalen betroffen, um seine Leistung reduzieren zu müssen? Oder hat möglicherweise der Netzbetreiber zur Sicherung der Stromversorgung den Vollbetrieb des AKW angeordnet? Oder kann das AKW aus technischen Gründen die Leistung nicht so kurzfristig reduzieren? Atomkraft-Kritiker Kamm sieht darin ebenfalls einen Haken der Atomkraftnutzung in Grundremmingen: „Dies ist ein in Deutschland seltener Siedewasserreaktor. Der hat nur einen Hauptkreislauf, während die üblichen Druckwasserreaktoren zwei haben.“ Ein solcher Reaktor sei möglicherweis aus Sicherheitsgründen noch weniger flexibel steuerbar und mit der volatilen Erzeugung aus Wind- und PV-Anlagen nicht vereinbar“, sagt Kamm.
Eine klassische Abregelung übrigens, um das regionale Stromnetz in der Großregion von Oberbayern und Schwaben vor zu viel Wind- und Sonnenstrom zu schützen, hatte es zum bisher letzten und einzigen Mal 2017 gegeben, wie sich Windparkunternehmer Sing erinnert. „2017 hatte der Netzbetreiber einmal im Rahmen des Einspeisemangements unsere Anlagen abgeregelt. Dazu brauchte es aber auch die Sondersituation, dass gerade einige Netze in Wartung waren, es war mit dem 1. Mai ein Feiertag, und es herrschte viel Wind und Sonne.“
Warum Grundremmingen die Einspeisung beibehalten musste
Etwas später erfolgte dann am Donnerstag übrigens doch noch eine Antwort des Atomkraftwerksbetreibers. „Im KKW Gundremmingen hat allerdings die kontinuierliche Betriebsüberwachung des Reaktorkerns von Block C einen Hinweis auf einen Brennelementdefekt ergeben. Vor diesem Hintergrund wird die Anlage am 30. Oktober abgefahren um einen frühzeitigen Austausch vorzunehmen. Dies ist ein weiterer Grund weshalb das KKW Gundremmingen gegenwärtig nicht aus wirtschaftlichen, sondern nur in dringenden Situationen in der Leistung reduziert wird“, schrieb ein Konzernsprecher. Dabei handelte es ich wohl um einen Defekt, der im Betrieb keine radiologischen Auswirkungen auf die Umwelt hat. Im Pool der von RWE betriebenen Atomkraftwerke habe der Konzern aber dennoch auf die Marktsignale und die Leistung des Atomkraftwerks Emsland in Niedersachsen abgesenkt. Der einzige noch betriebene Block C von ursprünglich drei Blocks des Atomkraftwerks Grundremmingen muss nach dem Ausstiegsfahrplan der Bundesrepublik übrigens Ende 2021 vom Netz.
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