Seit März hatte das höchste deutsche Richtergremium über die von den Energiekonzernen Eon, RWE und Vattenfall eingereichte Klage gegen den Atomausstiegsbeschluss der Bundesregierung von 2011 verhandelt. Nun gibt es den Klagen nach – teilweise: Der Atomausstieg gilt als rechtmäßig, er durfte so beschlossen werden. Allerdings hätte die Politik die Energiekonzerne für bestimmte und für sie unwägbare Folgen der eigenen Unschlüssigkeit in der Atomkraftpolitik entschädigen müssen, ließen die Karlsruher Richter sinngemäß zur Urteilbegründung wissen. Die genaue Höhe der Entschädigung sowie die Art und Weise ließ das Bundesverfassungsgericht noch offen. Es verpflichtet aber die Politik dazu, bis 30. Juni 2018 eine Entschädigungsregelung getroffen zu haben. Für die in Karlsruhe siegreichen Energiekonzerne bedeutet der Richterspruch, dass sie damit ihre Ansprüche entweder außergerichtlich oder in weiteren möglicherweise längerwierigen Klagen verhandeln können.
Konkret beschränkten die Juristen in den roten Roben allerdings die Entschädigungschancen der drei Atomkraftkonzerne auf zwei Ansprüche: Die Firmen dürfen demnach das Geld für etwaige Investitionen zurückfordern, so sie diese nach der zwischenzeitlich von der Berliner Politik verfügten Laufzeitverlängerung im Jahr 2010 vorgenommen hatten. Außerdem muss die Bundesregierung den Unternehmen verloren gegangene „Reststrommengen“ begleichen.
2002 hatte die damalige Koalition in Berlin aus SPD und Grünen den ersten Atomausstiegsbeschluss durchgesetzt: Ein im Konsens mit den Energieversorgern geschmiedeter Ausstiegszeitplan, wonach den AKW individuell Reststromerzeugungsmengen zugeteilt worden waren. Bis im Jahr 2021 hätte das letzte Kraftwerk abgeschaltet werden sollen. Diese sogenannten Reststrommengen durften die Konzerne allerdings teilweise zwischen ihren AKW aufteilen und von einem auf ein anderes AKW übertragen. 2010 hatte die Bundesregierung dann aber eine Laufzeitverlängerung verfügt: Die inzwischen aus einer CDU/CSU-FDP-Koalition bestehende Administration der Bundeskanzlerin Angela Merkel gewährte den Atomkraftwerksbetreibern um knapp unter bis über zehn Jahre längere Betriebszeiten bis in die 2030er Jahre hinein. Nachdem es 2011 allerdings zu einer AKW-Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima gekommen war, nahm dieselbe Administration diese Laufzeitverlängerung wieder zurück. Sie schloss acht AKW sofort und teilte einzelnen Atomkraftwerken einzelne feste Laufzeiten zu – bis maximal ins Jahr 2022 hinein.
Wie hoch die rechtlich begründeten Ansprüche der AKW-Konzerne nun sind, müssen die Streitparteien nun noch untereinander oder mit Gerichten verhandeln. Sie dürften allerdings weit unter den von den AKW-Betreibern zuletzt geforderten 19 Milliarden Euro an Entschädigungssumme liegen, wie mehrere Tageszeitungsredaktionen heute bereits schreiben. Hinzu kommt, dass dieselben Konzerne derzeit noch mit der Bundesregierung über die Atomenergiemüll-Endlagerung verhandelt. Nach den Plänen soll die Bundesregierung den Konzernen die Verantwortung für die Endlagerung des radioaktiven Materials abnehmen, wofür die Konzerne wiederum 23 Milliarden Euro in einen Staatsfonds einzahlen. Für Stilllegung und Abriss der Meiler müssen sie selbst aufkommen. Doch eigentlich hatte die Regierung als Gegenleistung für ihre Beteiligung an der Müllentsorgung verlangt, dass die Konzerne ihre Klagen zurückziehen. Diese Situation dürfte die Bereitschaft der Konzerne erhöhen, mit Entschädigungsforderungen während der Entsorgungs-Verhandlungen noch eher vorsichtig zu sein.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellt derweil ein brisantes Detail der Karlsruher Rechtsprechung heraus, das den diplomatischen Charakter des Urteils belegt: So hätte Vattenfall als ausländischer Konzern nach den Verfassungsgerichtsregeln eigentlich gar nicht klagen dürfen. Doch zugleich hat der schwedische Konzern zu einer Privatklage vor einem Schiedsgericht in den USA angesetzt. „Hätten die Richter nun Vattenfalls Ansprüche aus formalen Gründen zurückgewiesen, hätte das die private Klage wohl beflügelt“, interpretiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Die für die Erneuerbare-Energien-Branche tätige Anwaltsgemeinschaft Becker Büttner Held analysiert dennoch bereits, wie weitreichend die Rückforderungen nun ausfallen könnten: „Die Kläger wollten sehr, sehr viel Geld vom Staat für den Atomausstieg bekommen. Nun bekommen sie ein wenig Geld – wenn überhaupt“, erklärt sie in einer Mitteilung. Allerdings hält sie auch geringe Laufzeitverlängerungen für möglich: „Der Ausgleich kann als finanzielle Entschädigung in Geld gewährt werden, allerdings ist auch ein Ausgleich in Form längerer Laufzeiten einzelner Kernkraftwerke denkbar.“
(Tilman Weber)