Sechs Rotorblätter, ausgestattet mit 1.500 Sensoren, sollen künftig im Forschungspark Windenergie WiValdi (Wind Validation) des Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) zeigen, wie die Flügel der Zukunft aussehen können.
Im portugiesischen Werk des Anlagenherstellers Enercon rüstete ein 30-köpfige Team der beiden DLR-Institute für Aeroelastik sowie für Faserverbundleichtbau und Adaptronik und der Leibniz Universität Hannover die 57 Meter langen Rotorblätter mit rund 1.500 Sensoren aus. Von der Blattspitze bis zur Blattwurzel stehe nun modernste Messtechnik bereit, teilte das DLR in einer Presseinformation mit. Diese ermöglichten es erstmals, das Schwingungs- und Belastungsverhalten sowie die Aerodynamik und Statik einer Windenergieanlage im Realmaßstab und Praxisbetrieb umfassend wissenschaftlich zu untersuchen.
Rotorblätter gehören zu den Kernkomponenten einer Windenergieanlage. Sie sind bis zu 70 Meter lang und wiegen zwischen 15 und 20 Tonnen. Um Windenergieanlagen in Zukunft effizienter zu betreiben und auch Standorte nutzen zu können, die weniger windintensiv sind, sind noch größere und gleichzeitig leichtere Blätter gefragt. Wie sich dies realisieren lässt und welche technischen Herausforderungen damit verbunden sind, wollen die Wissenschaftler in Krummendeich ergründen, wo sich der Forschungswindpark derzeit im Aufbau befindet.
Informationen sammeln: Sensoren als „Nervensystem“ der Rotorblätter
„Die Sensoren sammeln Informationen, überwachen und geben Hinweise, wo ein Problem auftauchen könnte“, veranschaulicht Dr.-Ing. Yves Govers vom DLR-Institut für Aeroelastik. Im Inneren der Rotorblätter sind elektrische und optische Sensoren verbaut. Sie messen zum Beispiel die Beschleunigung an unterschiedlichen Stellen der Blätter und ermöglichen so Aussagen über das Schwingungsverhalten. Faseroptische Dehnungssensoren, die mit Lasertechnologie arbeiten, zeichnen die Belastungen auf, die auf das Material wirken. Ein Netzwerk aus piezoelektrischen Wandlern empfängt und sendet Ultraschallsignale und kann entstehende Schäden im Rotorblatt direkt erkennen. Weitere Kameras im Umfeld der Windenergieanlagen schauen sich die Rotorblätter von außen an. Als Referenz für deren Messungen ist auf mehreren Abschnitten der Blätter ein Muster aus Punkten lackiert.
Werden die Blätter immer länger, entstehen neue Effekte: Zum Beispiel können sich Schwingungen der Rotorblätter gegenseitig verstärken und die Stabilität der Anlage beeinflussen. „Das Schwingungsverhalten und damit auch die Materialbelastung konnten im Betrieb bisher kaum erfasst werden. Hier werden wir mit unserer umfassenden Sensorik wertvolle Daten sammeln und die Simulationen weiter verbessern können. Dieses Wissen hilft Forschung und Industrie dabei, genauere Vorhersagen zu treffen sowie noch leichter und stabiler zu bauen“, beschreibt Govers.
Schon heute vereinen Rotorblätter Leichtbau mit Stabilität. Sie bestehen aus zwei zusammengeklebten Schalen, die innen weitgehend hohl und mit Stegen verbunden sind. Zum Einsatz kommen Sandwich-Materialien: Sie haben oben und unten eine Decklage aus mit Glasfasern verstärkten Hightech-Kunststoffen, dazwischen befindet sich Kunststoffschaum oder sehr leichtes Balsaholz.
Regelungstechnik: Anlagen optimal steuern für hohe Effizienz und lange Betriebsdauer
Unter Belastung verbiegt sich das Rotorblatt nicht nur, sondern verdreht sich zusätzlich. Die Sensoren im Inneren der Blätter zeichnen auch das auf. Diese Daten können helfen, neue Ansätze für die Regelung von Windenergieanlagen zu entwickeln, um sie effizienter und länger zu betreiben.
Das DLR arbeitet dazu an Konzepten für eine lastadaptive Regelung von Anlagen: Kommt eine Böe auf, drehen spezielle Motoren an der Blattwurzel das Rotorblatt aus dem Wind. In Verbindung mit Sensoren im Umfeld der Windenergieanlagen soll es so möglich werden, sehr kurzfristig und flexibel auf die lokalen Wetterbedingungen vor Ort zu reagieren.
Turbulenzen erforschen für hohe und materialschonede Stromproduktion
Auch zwei hintereinanderstehende Windenergieanlagen – wie im Forschungspark des DLR – sind eine Herausforderung für die Regelungstechnik. Den Grund erklärt Yves Govers: „Die zweite Anlage steht im Nachlauf der ersten. Das heißt, sie bekommt die verwirbelte Luft der ersten Anlage ab. Deshalb wollen wir herausfinden, wie die zweite Anlage gesteuert werden muss, damit sie trotzdem möglichst viel Strom produziert und materialschonend betrieben werden kann.“ Auch hier setzen die Forschenden auf die große Menge an Daten aus den vielzähligen Sensoren.
Die Nachfrage nach solchen neuen Regelungskonzepten ist groß. Denn schon heute stehen in Windparks die teilweise über hundert Anlagen so dicht zusammen, dass sie sich alle gegenseitig beeinflussen.
Auf Biegen und Schwingen – intensive Tests vor dem Praxiseinsatz
Mittlerweile angekommen in Deutschlandland, haben die sechs Rotorblätter noch eine weitere Station vor sich: Bevor sie im Forschungspark in Krummendeich montiert werden, machen sie für zwei Monate einen Zwischenstopp in Bremerhaven. Am Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme (IWES) werden sie intensiven Tests an Prüfständen unterzogen. Dazu hängt das Team die Rotorblätter mit Gummiseilen an einen Kran und versetzt sie in Schwingung. Damit sollen vor allem die vielen Sensoren eingerichtet und getestet werden. Bei einem zweiten großen Test montieren die Forschenden die Blätter an einen Prüfstand und ziehen an ihnen, um so Statik, Deformation und innere Belastung zu testen. Nach Abschluss dieser Versuche ist die Montage der Hightech-Rotorblätter im Herbst 2022 geplant. (kw)
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