Deutschland steuert auf einen schwierigen Winter zu – zumindest, was die Energiekosten betrifft. Auch deshalb wird die Diskussion um den Weiterbetrieb der drei deutschen Atomkraftwerke mit Verve geführt. Sollte jede mögliche Kilowattstunde erzeugt werden und sollten deshalb alle drei Meiler möglichst lange weiterlaufen? Das fordern Industrie, CDU-Chef Friedrich Merz und Finanzminister Christian Lindner. Brauchen wir zwei der drei als Reservekraftwerke, um die Netzstabilität in Extremsituationen zu sichern, wie Wirtschaftsminister Robert Habeck es plant? Oder ist das Ganze eine Scheindiskussion? Denn technische Bedenken, Sicherheitsprobleme und eine Klage von Anwohnern könnten einen wie auch immer gearteten Weiterbetrieb ausschließen.
Isar 2 meldet Leckage und technische Bedenken
Derzeit häufen sich die Probleme: Isar 2, eines der beiden Reservekraftwerke, sorgt mit einem defekten Ventil für Aufregung. Eine Reparatur müsse im Oktober stattfinden, da die Brennelemente des Reaktorkerns laut Medienberichten nur noch eine geringe Reaktivität hätten - so gering, dass die Anlage schon im November nicht mehr herunter- und wieder hochgefahren werden könne. Gleichzeitig erklärt Betreiber E.on, es sei grundsätzlich zu prüfen, ob Habecks Plan „technisch und organisatorisch machbar ist, denn Kernkraftwerke sind in ihrer technischen Auslegung keine Reservekraftwerke, die variabel an- und abschaltbar sind“.
Im Dezember verhandelt das VGH Mannheim über Neckarwestheim
Gegen den Betrieb von Neckarwestheim, dem zweiten Reservekraftwerk, wird am 14. Dezember vor dem VGH Mannheim eine Klage von zwei Anwohnern verhandelt. Hätte sie Erfolg, muss das Umweltministerium in Baden-Württemberg den weiteren Betrieb des Reaktors unterbinden – Neckarwestheim stünde dann weder für einen Streckbetrieb, noch für eine Reserve zur Verfügung.
Gefährliche Rohrrisse im Reaktor
Grund für die Klage sind Sicherheitsbedenken. Das Problem: In Neckarwestheim sind seit 2018 immer neue Spannungsrisskorrisionen an Rohren im zentralen Dampferzeuger nachgewiesen worden. Dabei handelt es sich um extrem dünnwandige Rohre an der neuralgischsten Stelle des Reaktorkreislaufs. „Das Problem an diesen Rissen ist, dass sich weder die Geschwindigkeit, mit der sie wachsen, noch die Richtung, in die sich entwickeln, vorhersehbar ist“, betont Dieter Majer, Ministerialdirigent a.D., früherer Leiter der Unterabteilung „Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen“ im Bundesumweltministerium. Es kann also im schlimmsten Fall dazu kommen, dass ein Rohr im laufenden Betrieb reißt. Ein nichtbeherrschbarer Störfall sei dann möglich, warnt Majer.
Ausgestrahlt vermutet Risse in allen drei Kraftwerken
„Wir müssen davon ausgehen, dass es solche Risse in allen drei deutschen Atomkraftwerken gibt“, sagt Armin Simon, Campaigner AKW-Sicherheit bei Ausgestrahlt. Gefunden habe man sie in Neckarwestheim und Lingen, das zum Jahresende abgeschaltet wird. In Isar 2 sei die „Wahrscheinlichkeit groß“, dass ebenfalls Risse gebe, so Simon. „Man hat aber nicht danach gesucht.“
Allein deshalb dürfte aus technischer, aber auch aus juristischer Sicht keines der drei Kraftwerke weiterbetrieben werden, meint der Atomkraftgegener. Im Frankreich seien Kraftwerke wegen derselben Probleme vom Netz gegangen, heißt es von Ausgestrahlt.
„Statt sich mit haufenweisen Unwägbarkeiten und immer neuen Sicherheitsproblemen alter Reaktoren herumzuschlagen, sollten alle Verantwortlichen ihre Kapazitäten auf zielführende Maßnahmen zur sozialverträglichen Bewältigung der Energie(preis)krise konzentrieren“, fordert Simon.
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