Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) hat zum Thema Kohlekraftausstieg gleich zu Wochenbeginn klar gestellt: „Die künftige Bundesregierung tut gut daran, den Konsens mit den betroffenen Regionen, den Gewerkschaften und den Kraftwerksbetreibern zu suchen.“ Der größte deutsche Energiewirtschaftsverband bezieht sich dabei auf das Gutachten des Berliner Think-Tanks Agora Energiewende vom August, das einen Kohlekonsens als nicht zwingend für ein künftiges Ausstiegsgesetz ansieht. „Bereits eine erste Analyse des offensichtlich mit heißer Nadel gestrickten Agora-Gutachtens zeigt, mit wie vielen Rechtsunsicherheiten ein Ausstieg ohne Konsens behaftet wäre“, formuliert der BDEW-Hauptgeschäftsführer Stefan Kapferer in der Mahnung vom Montag.
Beim BDEW handelt es bekanntlich um die größte deutsche Energiewirtschaftsorganisation, der die traditionellen Energiekonzerne nicht nur angehören sondern mit zwei Vertretern im fünfköpfigen Präsidium auch weiterhin einflussreich Impulse geben. Insofern muss er immer noch die Konzerninteressen der alten Energiewirtschaft vertreten. Wichtige Kohlekraftwerke gehören schließlich immer noch RWE, Eon, Vattenfall und EnBW, um nur die vier größten in Deutschland zu nennen. Aber auch für die beim BDEW mitorganisierten großen Stadtwerke muss der Verband die mit der Kohlestromerzeugung verbundenen Interessen vertreten. Das gilt unabhängig davon, dass sich der Verband in vergangenen Jahren auch für die Interessen der Erneuerbare-Energien-Branche geöffnet hat. Oder dass der Präsident mit Johannes Kempmann sogar ein ehemaliges Fraktionsmitglied im niedersächsischen Landtag der Umweltpartei Bündnis 90/Die Grünen ist.
Soweit, so klar und wenig kommentierungswürdig. Doch im Detail holt der ehemalige FDP-Politiker Kapferer nur Argumente aus der Mottenkiste, die längst in der öffentlichen Debatte zerkaut und infolgedessen entweder anerkannt oder ausgespuckt – also abgelehnt worden sind. Zudem unterschlägt Kapferer an entscheidenden Stellen seiner weiteren Argumentation wichtige Fakten, um so seiner Mahnung unausgesprochen eine alarmistische emotionale Schwingung beimischen zu können. Das ist ein manipulatives Vorgehen, das vor der heutigen Jamaika-Sondierung offenbar die öffentliche Stimmung und die Erregung der bei FDP und CDU beheimateten Unterstützer der alten Energiewirtschaft anregen soll. Um es einem weitreichenden Kohleausstiegsgesetz so schwer wie möglich zu machen.
Genau vier Warnungen richtet Kapferer in seinem Brief an die Öffentlichkeit und die Verhandlungspartner eines neuen Regierungsbündnisses im Berliner Reichstag. Im wörtlich „Statement für die Presse“ betitelten Schreiben erklärt er zu seiner ersten Warnung, ein Kohlekonsens dürfe die Kraftwerke nicht mit pauschalen beziehungsweise durchschnittlichen Restlaufzeiten belegen – wenn die Betreiber der Kraftwerke nicht über einen Kohlekonsens ihr Einverständnis erklärt haben werden. Stattdessen müsse dann für jedes Kraftwerk eine Einzelbewertung für so eine Restlaufzeit stattfinden. Außerdem müsse die künftige Regierung dann „umso mehr“ Investitionen in Modernisierungsbaumaßnahmen für eine höhere Effizienz der Kohlemeiler der jüngeren Vergangenheit berücksichtigen – gemeint ist: entschädigen. Das ergebe das Bundesverfassungsgerichtsurteil im Dezember 2016 zum Atomausstiegsgesetz.
Richtig aber ist: Pauschale Restlaufzeiten fordert auch Agora Energiewende gar nicht. Der angesprochene Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts hatte den Konsens gar nicht als Voraussetzung für eine entschädigungsfreie Beendigung der Kernenergie durch das Atomausstiegsgesetz von 2011 genannt. Er hatte nur den schon 2002 von Grünen und SPD mit den Atomenergiekonzernen rechtskräftig gewordenen Ausstiegskonsens als Bestärkung seiner Entscheidung genannt, dass die Bundesregierung 2011 aus übergeordneten Interessen einen schnelleren Ausstieg aus der gefährlichen Energie der strahlenden gesundheitsschädlichen Rohstoffe der Kernenergie beschließen durfte. Auch eine Entschädigung der Investitionen sah das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2016 tatsächlich vor. Allerdings nur für Investitionen in einer kurzen Phase von rund einem Jahr: In einer die Energiewirtschaft nach Meinung der Karlsruher Richter irreführenden Phase, an deren Beginn, 2010, die damalige CDU-CSU/FDP-Regierung erst die Kernenergielaufzeiten bis 2040 verlängert hatte, und an deren Ende, 2011, sie diese wieder drastisch auf das Enddatum 2022 reduziert hatten. Nur die in dieser Phase getätigten Investitionen wertete das Bundesverfassungsgericht als kritisch und somit relevant für Entschädigungen. Denn die Atomkraftwerksbetreiber hätten hier aufgrund der Entscheidung über verlängerte Laufzeiten schnell ihre Kraftwerke modernisieren müssen, um die Wirtschaftlichkeit zu garantieren.
Die zweite Warnung Kapferers richtet sich gegen das Urteil von Agora Energiewende, eine einjährige Übergangsfrist vom Kohleausstiegsbeschluss bis zum Runterfahren der Meiler könne den Kohlekraftwerksbetreibern als wirtschaftlich zumutbare Umstellungsphase genügen. Im Gegenteil, schreibt Kapferer, müssten Verpflichtungen an Kohlelieferanten, Stromabnehmer oder auch bei den CO2-Zertifikaten im europäischen Emissionszertifikatehandel berücksichtigt werden. Das führe zu wesentlich längeren Übergangszeiten.
Richtig ist, dass auch die Agora-Analyse diese Verpflichtungen zu berücksichtigen empfiehlt. Nur lautet das Urteil dort, dass bei den meisten Kohlekraftwerken wohl ein Jahr genügen dürfe. Welche Fristen solche Meiler mit größeren Verpflichtungen erforderten, lässt Agora Energiewende offen. Im Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2016 hatten Strom-Lieferverpflichtungen ohnehin keine wirkliche Rolle gespielt.
Die dritte Warnung Kapferers will den Kohleausstieg ad absurdum führen: Ein Ausstieg führe dazu, dass Emissionszertifikate für CO2-Emissionen im europäischen Handel frei würden. Dann würden eben nur anderswo diese Zertifikate gekauft und dort zu mehr CO2-Emissionen führen.
Richtig ist: Auch Agora Energiewende erwähnt dieses Problem. Und mahnt deshalb dazu, den Emissionszertifikatehandel an den Kohlekraftausstieg durch eine neue europäische Regelung rechtzeitig anzupassen. Dazu mahnt der BDEW nicht. Er lässt vielmehr mit der ominösen Formulierung „Auch hier sollte man weiter denken“ die Stimmungskrieger gegen die Energiewende neue Missstimmung tanken. Einen effektiveren CO2-Zertifikatehandel für den Kohleausstieg zu fordern und damit mehr Gerechtigkeit in Europa auch für die hiesige Energiewirtschaft zu schaffen, will der BDEW-Hauptgeschäftsführer wohl gar nicht. Denn das könnte ja entgegen den Interessen der alten Kohlekraftbranche den Kohleausstieg womöglich noch als sinnvoll erscheinen lassen.
Und schließlich warnt Kapferer viertens noch davor, „die Netzstabilität in einer bestimmten Region“ nicht zu gefährden. Der Ausstieg aus der Kohle müsse die Rolle jedes einzelnen Kraftwerks hierfür mit entsprechend längeren Laufzeiten berücksichtigen.
Richtig ist: Das besagt auch die Agora-Energiewende-Studie in anderen Worten. Und dies dürfte bei Koalitionsgesprächen für Jamaika auch kaum umstritten sein. Aber am Schluss nochmals mit der gefährdeten Sicherheit der Stromversorgung gewunken zu haben, kann helfen, die Reflexe gegen den Kohleausstieg zu verstärken. So ist diese Formulierung vermutlich auch gemeint.
Wie die Stimmungsmache gegen einen effektiven Ausstieg dann auf der offenen politischen Bühne fortzuführen ist, hat heute schon Armin Laschet vorgeführt. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und CDU-Politiker hat heute mit einem Aus für weitere Jamaika-Verhandlungen gedroht, sollten die Grünen allzu klare Ausstiegsforderungen erheben.
Auf diese Weise könnte sich der Streit um die Zukunft der Energieversorgung mehr denn je auf bloßer Stimmungsebene abspielen, statt auf einer Ebene von Sachargumenten oder politischem Interessenaustausch. Inhaltlich ernst zu nehmen ist der Streit um die restliche Kohleverstromungszeit dann aber nicht.
(Tilman Weber)