Selbst dem notorisch optimistischen europäischen Windenergieverband Wind Europe war der neue Rekordzubau von 19,2 Gigawatt (GW) neue Windkraft im Jahr 2022 keine positive Regung wert. Es ist signifikant weniger als das, was die Europäische Union (EU) „errichten sollte, um auf der Spur zu sein, für ihre 2030-Klima- und -Energie-Ziele (das Notwendige, tw) zu liefern“, notierte die Organisation der europäischen Windenergiebranche schon am 28. Februar, um auf die fertige jährliche Bilanz Wind Energy in Europe hinzuweisen. Den Satz hat Wind Europe zudem gleich an den Beginn ihres Hinweises zum Herunterladen des Reports im Internet gestellt. Denn danach stellt sie die enorme Diskrepanz zwischen den auch in den kommenden Jahren zu erwartenden jährlichen Installationsvolumen der Windkraft in den EU-Ländern und den zum Erreichen der klima- und energiepolitischen EU-Ziele notwendigen jährlichen Windparkinstallationen heraus: Von 2023 bis noch 2027 dürfte es jährlich bei einem durchschnittlichen Windparkneubau im EU-Raum mit 20 GW bleiben. Das wäre nur mäßig mehr als im nun vergangenen Jahr, in dem die EU-Länder 16,15 GW zum gesamteuropäischen Windkraftausbau beigesteuert hatten. Dagegen würden die Ziele der Staatengemeinschaft bis 2030 einen jährlichen Zubau um 30 GW erfordern.
Bezogen auf den gesamten Kontinent hatte die Beschleunigung des Windenergieausbaus im Vergleich zum Vorjahr nur ebenfalls mäßige 0,9 GW betragen. Daran hatten die Windparkerrichtungen an Land den wichtigsten Anteil mit einem Plus im Vergleich zu 2021 von 1,3 GW beziehungsweise einem Jahreszubau neuer Erzeugungskapazitäten von 16,7 GW. Die Neuerrichtungen für Offshore-Windparks auf dem Meer bilanziert Wind Europe bei 2,5 GW und somit um 0,4 GW geringer als im Vorjahr.
Um den damit erreichten Grad der Beschleunigung für Europas Windkraftausbau einzuschätzen, lohnt allerdings der Vergleich insbesondere bei Windkraft an Land mit dem nun bisher drittbesten Ausbaujahr 2017. Dessen 14,1 GW neue Onshore-Windkraft übertraf das jetzige Bilanzjahr um 2,6 GW. Rein rechnerisch kommt das Zubaujahr 2022 somit einem Zugewinn an Ausbautempo der Windenergie an Land innerhalb der vergangenen fünf Jahren um Jahr für Jahr 3,7 Prozent im Vergleich zu 2017 gleich. Allerdings stehen dem in der Bilanz die Jahre eines Einbruchs der europäischen Windenergiekonjunktur von 2018 bis 2020 mit deutlich geringeren Installationen gegenüber.
Wer in die detaillierte Aufschlüsselung der Windturbinen-Installationsdaten der 2022-Bilanz schaut, erkennt unschwer die zunehmende Schieflage der regionalen Verteilung des Windkraftausbaus als gewichtige Ursache für die unzureichende Beschleunigung. So fällt inzwischen Osteuropa für die Windkraft fast komplett aus. In 16 der osteuropäischen Länder, die vor dem Ende des vorigen Kalten Krieges nicht den marktwirtschaftlichen Ländern des sogenannten politischen Westens angehört hatten, gab es keine einzige Windturbineninbetriebnahme. Das betraf jeweils acht Länder mit EU-Mitgliedschaft und acht Länder außerhalb der Staatengemeinschaft. Und von den übrigen drei dieser osteuropäischen Länder trugen Lettland und Litauen gerade einmal 59 und 69 MW bei.
Als einziges Land innerhalb dieser osteuropäischen Hälfte des Kontinents nahm Polen erstmals nach sechs Jahren Stillstand wieder etwas Fahrt auf. Mit 1,5 GW realisierten Investoren und Projektierungsunternehmen nun die ersten größeren Kapazitäten aus den Ausschreibungen des Landes. Das Land stützt sich inzwischen wie mittlerweile alle führenden Windenergieländer Europas auf Betreiben der EU auf ein wettbewerbliches Ausschreibungssystem als wirtschaftlichen Rahmen des nationalen Windenergieausbaus. Für moderne Windkraftanlagen an Land hatte Polen mit den Ausschreibungen 2018 begonnen, ein Jahr nach Deutschland.
Dass die Windenergiebranche in Europa dennoch mäßiges Wachstum verzeichnen kann, ist die Folge eines inzwischen aufkommenden Grundrauschens der Errichtungsarbeiten im Westen, Norden und im Süden Europas. Zwar gibt es noch immer Länder, die ein ganzes Jahr lang ausfallen. Doch beschränkte sich dies 2022 auf die Klein- und Kleinstländer oder Inseln wie Zypern, Malta, Island, Faröer-Inseln sowie die topografisch ungünstige und politisch konservative Schweiz. In Dänemark, Griechenland, Irland, Österreich, Norwegen, Belgien und Italien sind jeweils neue Windparks an Land in einer Nennleistungs-Größenordnung im Bereich von mehr als 100 bis knapp 500 MW neu hinzugekommen. Einen zusätzlichen kleineren Beitrag lieferten zudem Pilot-Offshore-Windparks in Norwegen und Italien, wo Politik und Wirtschaft bereits mehr oder weniger klaren Szenarien zum Einstieg in die Nutzung der Windenergie im Meer folgen. Im Vergleich zu deren 60 und 30 MW wirkten sich aber vor allem die erstmalige Inbetriebnahme von Offshore-Windkraft in Frankreich von 480 MW sowie die Rückkehr Deutschlands zum Offshore-Windkraftausbau mit 342 MW durch den Nordsee-Windpark Kaskasi plus der stabile Meereswindparkzubau der Niederlande mit allerdings auch nur mäßigen 369 MW statistisch aus.
Auffälliges Merkmal der lauen Branchenkonjunktur ist freilich auch, dass die aktuellen und ehemaligen führenden Windenergiemärkte des Kontinents bestenfalls kaum erkennbare Fortschritte erkennen lassen. Während der Windkraftausbau in Deutschland seit seinem Markteinbruch im Jahr 2019 nur gleichbleibende Zunahmen des jährlichen Zubaus in 500-MW-Schritten verzeichnet und mit 2,4 GW immer noch nicht einmal die Hälfte der Marktgröße von 2017 wieder erreicht, enttäuschen insbesondere Frankreich und Großbritannien. Frankreich bleibt durch einen Zubau von 1,6 GW eine Region mit deutlichem Abstand zu den führenden Windkraftmärkten, während Großbritannien bei 500 MW Zubau an Land weiterhin weitgehend Onshore-Windenergie-abstinent bleibt – in der britischen See kamen derweil 1,2 GW hinzu.
In diesem mäßigen Ausbauklima wurden überraschend Schweden und Finnland erstmals zu den Führungsnationen des Onshore-Ausbaus: 2.441 und 2.430 MW meldet Wind Europe für beide skandinavischen Länder. Deutschland verteidigte gleichwohl den Toplatz im Europa-Ranking dank des zusätzlichen Offshore-Beitrages. Spanien mit knapp 1,7 GW und Türkei mit knapp 900 MW trugen als mittlere und wie Spanien wieder Stabilität zurückgewinnende Märkte ebenfalls noch wesentlich zum leichten Plus in Europa bei.
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