Die Erkenntnis lieferte Barbara Hendricks mit einer Wutrede. Eine solche war die Ermahnung an die Kanzlerin gemessen an Hendricks sonst so zurückhaltenden Auftreten durchaus. Die bisher kaum durch laute Worte auffallende sozialdemokratische Bundesumweltministerin forderte vor zwei Tagen über die Medien Angela Merkel zu einem Machtwort auf. „Wenn die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin etwas wert ist“, sagte sie im für sie ungewohnt deutlichen Vorwurfsmodus an Merkel gerichtet, „müsste der Vorschlag nahezu unverändert aus den Ressorts zurückkommen“. Doch ihr „Vorschlag“, das Konzept eines Klimaschutzplanes zur Vorlage bei der UN-Klimaschutzkonferenz kommende Woche in Marokko, steckt in Merkels Ministerkabinett fest. Dort bekommt er bislang keine Zustimmung. Dabei habe sie Sie ihre Vorschläge zur Einhaltung der Klimaziele vorab mit dem Kanzleramt besprochen, sagte Hendricks anklagend zu den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Nun droht der SPD-Politikerin eine Blamage: Bei der Klimakonferenz der Vereinten Nationen (UN) in Marokko vom 7. bis 18. November sollen die Länder erklären, wie sie die im vergangenen November beim Weltklimagipfel in Paris versprochenen Maßnahmen zur Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius umsetzen. Hendricks erwartet nun sogar, dass ihr Klimaschutzplan 2050 erst im Dezember verabschiedet werden kann. Somit müsste sie nach Marokko mit leeren Händen reisen.
Die Ministerin kritisierte mit Blick auf das Verkehrs- und das Landwirtschaftsministerium, die beide von Politikern der CSU geführt werden und derzeit noch Widerstand leisten: Alle Ministerien müssten ihre Verantwortung wahrnehmen und zur Einhaltung der Zusagen beitragen. Unabhängig vom Parteibuch in der großen Koalition aus den Schwesterparteien CDU/CSU und der SPD, soll das wohl heißen. Aber auch: "Manche scheinen immer noch zu glauben, Klimaschutz sei allein das Vergnügen der Umweltministerin." Und dann drohte die Sozialdemokratin, sie müsse notfalls mit gesetzlichen Vorgaben reagieren, gebe es keine Zustimmung zu den Klimazielen. Lieber sei ihr eigentlich aber ein Konsens der Regierung.
Federn lassen musste der Plan zum Klimaschutz allerdings auch schon davor: Gerupft hatte ihn ausgerechnet das Wirtschaftsministerium unter Führung von Hendricks Parteivorsitzendem Sigmar Gabriel. Der hatte wirtschaftskritische Passagen streichen lassen.
In diesem Zusammenhang entlarvt Barbara Hendricks‘ Wutrede tatsächlich den eine Woche zuvor von eben Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel verfassten Brief an die Kommission der Europäischen Union (EU) als unwahrhaftig. Der SPD-Chef und Vizekanzler hatte in dem Brief das langsame Tempo der Energiewende in Europa kritisiert. Die von der Kommission vorangetriebene Energieunion der EU mit einheitlichen Marktregeln sei eines der wichtigsten politischen Projekte der EU. Dafür benötige die EU aber einen „umfassenden, verlässlichen, klaren und transparenten Rahmen für Investitionen und Innovationen“, und zwar gewissermaßen sofort.
Er forderte einen verlässlichen Förderrahmen für erneuerbare Energien, der die schrittweise Angleichung der nationalen Fördersysteme sicherstelle. Zudem verlangte er eine Roadmap für den weiteren Weg zu mehr Marktintegration der Erneuerbaren bis 2030. Außerdem müssten Regeln dafür gelten, wie Mitgliedsstaaten für nicht ausreichende Klimaschutzmaßnahmen bezogen auf das verbindliche EU-Ziel bei erneuerbaren Energien bestraft werden könnten.
Sein Schreiben hatte der SPD-Chef an den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker gerichtet, sowie an die zuständigen EU-Kommissare Maroš Šefčovič (Energieunion), Miguel Arias Cañete (Klimaschutz und Energie) und Margrethe Vestager (Wettbewerb).
Doch noch Ende September hatte Gabriel mit Šefčovič gemeinsam auf einem Podium der Windenergiemesse Wind Energy über die nächsten klimapolitischen Schritte Europas gesprochen. Dabei hielt es der Deutsche nicht einmal vonnöten, dem EU-Kommissar klare Kante bei Überlegungen über ein Ende des deutschen Einspeisevorrangs für Erneuerbare zu zeigen. Er gehe nicht davon aus, dass die EU die erforderliche Vereinheitlichung im Strommarkt nutze, um den Einspeisevorrang zu kippen, antwortete er auf eine kritische Journalistenfrage. Beim Briefschreiben vergangene Woche sah sich Gabriel dann plötzlich doch zu einer vehementeren Verteidigung dieses Vorrangs genötigt. Er schrieb: „Der Einspeisevorrang unterstützt den Rückbau der starren fossilen Restlast und schafft gleichzeitig die jetzt nötige Sicherheit für Investoren.“
Ob er hier in Sachen Einspeisevorrang noch mehr Widerstand leisten müsste oder nicht, sei nun erst einmal dahingestellt. Doch Gabriel hatte in der Podiumsrunde der Wind Energy im September auch angekündigt, weiterhin gegen sogenannte Kapazitätsmärkte vorzugehen. Sie seien nicht wirtschaftlich. Nun sagte er in seinem Brief an die EU nur, es müsse Regeln bezüglich Kapazitätsmärkte im Stromsektor geben. Dazu gehöre auch eine „Phase-Out Roadmap“. Diese Roadmap soll beschreiben, wie aus einem einmal eingeführten Kapazitätsmarkt wieder herauszukommen ist. So scheint sein Widerstand gegen Kapazitätsmärkte schon wieder gebrochen. Kapazitätsmärkte sind Stromhandelsmärkte für Kraftwerke, die nicht im Normalbetrieb Stromerzeugen, sondern nur bei drohender Stromknappheit einspringen. Bis dahin halten sie ihre Kapazität gegen Bezahlung nur bereit.
Doch Gabriels angebliches Drängen auf eine schnellere Energiewende der EU ist eben nicht ehrlich. Denn keineswegs will der SPD-Machtmensch eine schnellere Energiewende auch in Deutschland. Das zeigt schon sein Einfluss, den er im Sommer für eine Verlangsamung des Erneuerbare-Energien-Ausbaus in Deutschland bei der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) 2017 eingebracht hatte. Das EEG 2017 lässt vor allem bei Windenergie an Land nur noch stark gebremsten Ausbau zu.
Und auch beim Klimaschutzpacket von Hendricks trat Gabriel jetzt auf die Bremse, um Ausnahmen für Wirtschaftsunternehmen von strengeren Klimaschutznormen zu erreichen. Als Hendricks jetzt sich bei Angela Merkel beschwerte, war von Gabriel ebenfalls nichts zu hören. Wahrscheinlich war der mögliche nächste Kanzlerkandidat der SPD gerade beim Konzipieren des nächsten Briefes, der dann wieder den Medien zugespielt werden kann. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt – in einer Zeit, während der inoffizielle Vorwahlkampf ums Bundespräsidentenamt und die Kanzlerkandidatur bei der SPD schon begonnen hat.
(Tilman Weber)