Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Energiesystemwende

Riesenchance: Die Schiene wird Retter der Verkehrswende

Marlin Arnz

Dekarbonisierung des Verkehrssektors startet fast bei Null

Die Energiesystemwende ist eine Energie- und Verkehrswende zugleich, wobei letzterer Teil dringenden Handlungsbedarf zeigt. Während 2019 bereits 46 Prozent des deutschen Stroms aus erneuerbaren Quellen stammte, hinkt die Verkehrswende hinterher. Im Jahr 2018 basiert der Endenergieverbrauch beim Transport zu 94 Prozent auf fossilen Brennstoffen, während weitere 4 Prozent aus Biokraftstoffen stammen. Dabei ist der Verkehrssektor, nach der Energiewirtschaft, mit einem Anteil von 19 Prozent der zweitgrößte Emittent von Treibhausgasen in Deutschland.

Freiheitlich-individuelles Narrativ der Automobilindustrie überwinden

Aber es gibt ein weiteres Problem: Die öffentliche und zu großen Teilen auch wissenschaftliche Debatte drehen sich vor allem um die Frage, wie der Individualverkehr elektrifiziert werden kann. Batterien oder Brennstoffzellen, welche Technologie wird das Rennen machen?

Die Antwort sollte etwas ganz anderes sein. Denn flächendeckender Individualverkehr ist keine zukunftsfähige Vision für eine Welt, in der Ressourcen, Energie und Fläche begrenzt sind. Die Diskussion in der Verkehrswende ist im freiheitlich-individuellen Narrativ der Automobilindustrie gefangen und sollte sich wieder dem ersten Massenverkehrsmittel überhaupt zuwenden: der Schiene.

Die Schiene wiederentdecken

Im 19. Jahrhundert schaffte die Eisenbahn die Mobilisierung der breiten Masse, die ihre damaligen Wege größtenteils zu Fuß oder in Pferdekutschen bestritt. Im 21. Jahrhundert kann der überregionale Hochgeschwindigkeits-Schienenverkehr zusammen mit urbanen Nahverkehrsnetzen Personen und Güter von ihren behäbigen Straßengefährten in eine Mobilität von morgen befördern.

Die Vorteile der Schiene liegen auf der Hand: Im deutschen Transportsektor stammen schon heute nur zwei Prozent des Endenergieverbrauchs aus dem Bahnbetrieb, Tendenz sinkend. Mit 20 Prozent spielt der Diesel dabei eine immer kleiner werdende Rolle. Die Bahn ist energieeffizient, einfach zu elektrifizieren, hat enorme Beförderungskapazitäten und schneidet in der Gesamtkostenbetrachtung besser ab als der Straßenverkehr. Auch für Kurz- und Mittelstreckenflüge bietet ein Hochgeschwindigkeits-Schienennetz die komfortable Alternative.

Die Schweiz macht vor, wie es gehen kann

Ein positives Beispiel liefert die Schweiz: durch eine starke und umfassende Schienenpolitik liegt der Schienenanteil im Personenverkehr bei 20 Prozent und im Güterverkehr bei knapp 40 Prozent (alpenquerend sogar über 70 Prozent). Die Auslastung des Rollmaterials ist wesentlich höher als in Deutschland. Der Energie- und Flächenbedarf sinken und die Umstiegs-, bzw. Umschlagzeiten verringern sich auch. Über die Hälfte der Bevölkerung hat ein Bahn-Abonnement und die Zug-Taktung ist aufeinander abgestimmt. Dies ist nicht zuletzt durch öffentliche Förderung und eine effiziente, zielgerichtete Planung möglich. Hier hat Deutschland viel gute Luft nach oben.

Worauf es ankommt: Investitionen und Innovationskraft

Dennoch gibt es bei der Bahn auch strukturelle Hürden: Mangelnde Flexibilität, hohe initiale Investitionskosten und geringe Innnovationskraft machen die Konkurrenz zum Straßenverkehr hart. In Deutschland kommen dazu noch operationelle Schwierigkeiten. Diese Schwachstellen gilt es gezielt zu adressieren – sowohl im Personen-, als auch im Güterverkehr.

Das Energiesystem der Deutschen Bahn

In Zukunft muss der Schienenverkehr aber nicht nur Verkehrsaufkommen vom Individualverkehr zurückgewinnen. Die Bahn kann auch für den Stromsektor von größerer Bedeutung sein. Heute versorgt die DB Energie den Bahnbetrieb mit Strom aus eigener Produktion über ein eigenes, 7.800 km langes Netz. Bis 2038 will die Bahn 100 Prozent erneuerbar fahren und eröffnete dazu vor kurzem die erste PV-Anlage mit 42 MW Direkteinspeisung ins Bahnnetz. Momentan sind 46 Prozent des deutschen Schienennetzes nicht mit Oberleitungen elektrifiziert, wodurch im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) 36 Prozent der Zug-km mit Diesel-Traktion bestritten werden. Diese Strecken werden entweder mit Oberleitungen ausgestattet oder alte Diesel-Lokomotiven mit Batterie- oder Brennstoffzellenbetriebenen Regionalzügen und dazugehöriger Ladeinfrastruktur ersetzt. Dadurch entstehen Flexibilitätsoptionen für das Stromnetz.

Ab Dezember 2022 soll beispielsweise die Heidekrautbahn bei Berlin mit 100 Prozent erneuerbar produziertem Wasserstoff fahren. Die Ladepunkte können durch Abfangen von Angebots- oder Nachfragespitzen große Flexibilitäten bereitstellen, besonders an den Grenzen urbaner Räume, wo der SPNV üblicherweise lokalisiert ist. Und vielleicht können sogar irgendwann die gigantischen Schwungmassen der Züge, welche unter Oberleitungen fahren, als Momentanreserven dienen, wenn die großen thermischen Kraftwerke das Netz verlassen.

Schiene zum Express der Verkehrswende machen

Nur eine Energiesystemwende, die das Verkehrsmittel der Zukunft mitdenkt, wird Erfolg haben. Denn im Energiesystem wird die Bahn eine noch bedeutendere Rolle einnehmen als heute schon. Die Schiene kann dann nicht nur das Zugpferd der Verkehrswende werden, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Energiewende leisten. Diese Potenziale gilt es systematisch zu erforschen und durch eine starke Verkehrspolitik zu betonen.

Dieser Beitrag ist Teil einer Kolumne der Reiner Lemoine Stiftung zur EnergieSystemWende. Darin kommen regelmäßig Autorinnen und Autoren zu Wort, die für die Reiner Lemoine Stiftung (RLS) sowie das Reiner Lemoine Institut (RLI) aktiv sind oder gemeinsam mit RLS und RLI an Projekten zur Transition des Energiesystems arbeiten.

Der Autor Marlin Arnz ist Promovend am RLS-Graduiertenkolleg zur EnergieSystemWende und forscht zu Fragen der Verkehrs- und Energiewende.

Tipp: Sie wollen keinen Beitrag der RLS zur EnergieSystemWende verpassen? Dann abonnieren Sie doch den kostenlosen erneuerbareenergien.de-Newsletter. Hier geht es zur Anmeldung.