Bei oberflächlicher Wahrnehmung mag das zwar selbst für Stromversorger – so nicht direkt am Regelleistungshandel beteiligt – als nur graduelle Handelsanpassung im Sinne der Preisgerechtigkeit anmuten. Doch die Auswirkungen stellen laut Next Kraftwerke die bisherigen Handelsmechanismen auf den Kopf. Die Neuregelung werde die kleineren Grünstromerzeuger diskriminieren und mit höheren Rechnungen an die Stromverbraucher einhergehen, moniert Next Kraftwerke. Und sie verringere den Anreiz für Energieversorger oder Stromhändler, als sogenannte Bilanzkreisverantwortliche die eigens bestellte Stromerzeugung mit dem Stromverbrauch der eigenen Kunden möglichst in Deckung zu bringen.
Per Eilantrag beim Düsseldorfer Oberlandesgericht (OLG) hatte Next Kraftwerke im Juli die neue Praxis schon an ihrem dritten Handelstag vorerst gestoppt. Das OLG stimmte Next Kraftwerke nicht grundsätzlich zu. Allerdings übernahm es die Bewertung, dass ohne Übergangsfrist den Reserveleistungshändlern zu wenig Zeit für eine Anpassung ihrer Handelspraxis bleibe.
Freilich: Ohne überraschende Neuentwicklungen im Reformprozess der Sekundär- und Minuten-Regelleistung wird das Mischpreisverfahren demnächst das bisherige Leistungspreisverfahren ablösen. Denn das OLG wertet das neue Preisfindungssystem als Übergangsregelung. Sie dürfte demnach ab Mitte Oktober bis zur Einführung eines Regelarbeitsmarktes gelten. Das Hauptsacheverfahren in dem Rechtsstreit über die neue Auktionssystematik würde nämlich nach Meinung des Gerichts so lange dauern, dass die jetzige Übergangsregelung ungerechtfertigterweise gar keine Chance mehr bekäme in Kraft zu treten. Das Gericht benennt eine mögliche Übergangszeit „von einem bis eineinhalb Jahren“. Nach deren Ablauf könnte dann ein neuer „Regelarbeitsmarkt“ wirksam geworden sein, so die Argumentation, an dem die zum Ausgleich von Unter- und Überversorgung im Netz tatsächlich gelieferte oder aus dem Netz herausgenommene Elektrizität gehandelt wird. Diesen Regelarbeitsmarkt haben in Deutschland bereits die Übertragungsnetzbetreiber vorgeschlagen.
Beim Kölner Direktvermarkter Next Kraftwerke will Geschäftsführer Hendrik Sämisch allerdings weiterhin am Widerstand gegen das neue Mischpreisverfahren festhalten. „Wir hoffen, dass wir nach den drei Monaten Aufschub im Hauptsacheverfahren weiter sein werden“, sagte Sämisch nun zu ERNEUERBARE ENERGIEN. Schon die beiden Handelstage im neuen Auktionsverfahren habe dazu geführt, dass sich die Zahl der in den Leistungsausschreibungen bezuschlagten Anbieter von Regelenergie deutlich reduziert habe und der Anteil besonders großer Kraftwerksbetreiber an den Handelsvolumen in die Höhe geschossen sei. „Es war zu beobachten: Die Großen haben unter dieser Regelung die anderen Bieter aus dem Verfahren rausgetrieben“, sagt Sämisch.
Laut Next Kraftwerke hat das bisherige Auktionssystem nämlich seine Zwecke weitgehend erfüllt: Das Leistungsverfahren sieht bisher vor, dass die ihren Bedarf für den nächsten Tag ausschreibenden Stromversorger und Stromhändler am Regelenergiemarkt ihre Zuschläge zunächst nur mit Blick auf die angebotene Regelleistung vergeben. Damit hatten sie in der Vergangenheit dem Buchstaben nach die Regelenergieanbieter zuerst nur für die von ihnen vorgehaltene Regelleistung bezahlt. Die in den Auktionen ermittelten Preise gab es somit für die Menge an Leistung, um die beispielsweise ein Betreiber einer Biogasanlage deren Betrieb konstant reduzierte und bei Stromengpässen deshalb Energie nachliefern konnte. Umgekehrt ermittelte die Auktion zuallererst die Vergütungshöhe für jedes Kilo- oder Megawatt Leistung, um die ein Windparkbetreiber bei guten Windprognosen im Bedarfsfall die Stromproduktion bei guten Windprognosen rasch zu reduzieren zusagte.
Im Endeffekt war aber das Gegenteil entstanden: ein Energy-only-Markt. Der starke Wettbewerb der Stromvermarkter hatte dazu geführt, dass die Leistungspreise in den Auktionen wiederholt teilweise auf Null gefallen waren – und sich die Gebote nur bei den Preisen für tatsächlich gelieferte Regelarbeit unterschieden. Der daraus entstandene Effekt habe den größtmöglichen Nutzen für den Regelstrommarkt gehabt, zumindest was Sekundär- und Minutenregelleistung angehe, sagt Sämisch. Denn die teilweise sich ergebenden hohen Arbeitspreise wurden ja nur fällig, wenn die Kalkulationen sowie die Wind- und Sonnen-Prognosen der Direktvermarkter nicht aufgingen und sie sich rasch große Mengen Reservestrom liefern lassen mussten. Denn alle Bilanzkreisverantwortlichen müssen schließlich mit Sekundär- und Minutenregelleistung die Leistungspakete viertelstundengenau nachkaufen, um die der tatsächliche eingetretene Strombedarf von den vorher eingekauften Stromerzeugungsmengen abweicht – und damit Versorgungslücken verdeutlicht.
Dabei handelt es sich bei Sekundärregelleistung um Regelenergie, die 30 Sekunden nach einer Fehldeckung der Stromeinspeisung sich leerende Stromspeicher und aufgebrauchte Trägheiten im Netz aufzufüllen beginnt. Binnen fünf Minuten nach einer Ober- oder Unterdeckung der Netzeinspeisung müssen die Sekundär-Regelleistungsanbieter auch in vollem Umfang den Strom liefern. Die Minutenreserveleistung schließt sich zeitlich danach an: Spätestens nach 15 Minuten müssen die hier gebuchten Kapazitäten den Strom im vollen bezuschlagten Umfang liefern oder die Einspeisung reduzieren.
Tatsächlich kann Next Kraftwerke mit Verweis auf die verfügbaren Marktdaten nachweisen, dass die Stromhändler seit Jahren kontinuierlich immer weniger für die Regelenergie ausgeben mussten. Denn offenbar hatte die Sekundär- und Minutenregelreserve-Auktionierung dazu geführt, dass die Branche mit Innovationen für immer bessere Prognosen für die Stromeinspeisung insbesondere auch aus den wetterabhängigen Wind- und Solarstromanlagen sorgten. Und die durch die Auktionen mit bezuschlagten teils hohen Arbeitspreise führten dazu, dass nur die Stromversorger und Stromhändler bestraft hohe Kosten hatten, die beim Einkauf von Erzeugungsleistungen zu sehr vom wirklichen Bedarf abwichen. Belohnt wurden damit insbesondere auch Grünstromhändler wie Next Kraftwerke, die mit sogenannten virtuellen Kraftwerken die Einspeisung von Wind- und Solaranlagen und Bioenergieanlagen feinsteuern konnten – oder auch ihre Kunden freiwillig ihren Verbrauch mehr im Einklang mit der volatilen Grünstromeinspeisung dosieren ließen.
So waren die Kosten der Vorhaltung von Sekundärregelleistung in Deutschland seit 2010 stetig von 593 Millionen Euro auf 90,5 Millionen Euro bis 2016 gefallen. Die Kurve der Minutenreserve-Kosten zeigt nicht dieselbe eindeutige Tendenz. Doch seit dem Jahr 2013 mit den bisher höchsten Kosten seit 2010 in Höhe von 156 Millionen Euro sind die Werte bis 2016 nur noch gesunken – auf einen Tiefstwert dieses Beobachtungszeitraums von nur noch 33 Millionen Euro.
Und das war laut Sämisch gut für die Stromkunden: Denn die Regelenergiekosten seien in den Stromrechnungen zuletzt immer weniger ins Gewicht gefallen, lautet seine Argumentation. Schließlich hätten die Stromversorger bisher nur die Kosten für die Leistungspakete effektiv auf ihre Stromkunden ablegen können, die Strom-Arbeitskosten aber als Unkosten für Fehlkalkulationen auf Kosten eigener Gewinne abschreiben müssen.
Allerdings hatte ein taktisches Manöver eines Großanbieters das System im Oktober 2017 gesprengt und seither eine von Next Kraftwerke wie einen Krimi aufgedröselte Dynamik entfaltet. Der Großanbieter hatte bei einem Leistungspreis von Null Euro zugleich eine enorme Menge an Regelarbeitsenergie für den astronomischen Arbeitspreis von 77.777 Euro pro Megawattstunde (MWh) angeboten. Nach der sogenannten Merit-Order-Systematik hatte er für sein Null-Euro-Gebot dann auch den Zuschlag erhalten. Danach war tatsächlich ein großer Regelbedarf im Stromnetz eingetreten – und der Regelenergieanbieter konnte sogar den Strom mit der Hälfte der von ihm angebotenen Erzeugungskapazität einspeisen. Zwei Viertelstunden lang konnte der Anbieter die Elektrizität aus einer Erzeugungskapazität von 250 Megawatt liefern.
Weil die Kosten für einige Stromversorger damit an diesem Tag in astronomische Höhen geschossen waren, hatte die BNetzA daraufhin zunächst einen Höchst-Arbeitspreis von 9.999 Euro pro MWh eingeführt – ehe sie im Mai das Mischpreisverfahren verfügte. Dieses soll die Gefahr einer ähnlichen Preis- und Kostenhavarie wie im Oktober 2017 nun bannen.
Laut Next Kraftwerke spielten die Preise allerdings an den bisherigen zwei Tagen mit dem Mischpreissystem bereits verrückt. Zudem hätten seit der vorübergehenden Aussetzung der neuen Auktionsregel sich mehrmals strategische Angriffe von Anbietern großer Leistungsvolumen wiederholt. Für Next Kraftwerke ist die Bewertung offenbar eindeutig: Schon nach den ersten zwei Handelstagen im Juli habe sich anhand steigender Leistungspreise gezeigt: „Ein Tag im neuen Mischpreisverfahren verursacht nahezu doppelt so hohe Kosten für Sekundärregelleistung wie eine ganze Woche nach dem bisherigen Verfahren.“
(Tilman Weber)