In ihrer am Dienstag veröffentlichten Studie Energy Technology Perspectives 2017 erklärt die IEA tatsächlich, für das auf der Weltklimakonferenz in Paris vor eineinhalb Jahren verabredete internationale Zwei-Grad-Ziel müssten jährlich 20 Gigawatt (GW) neue Atomkraft-Kapazitäten an die Netze gehen. Die angestrebte Dekarbonisierung, also die Reduzierung der Treibhausgasemissionen, verlange "eine klare und konsistente Unterstützung der Politik für existierende und neue Kapazitäten, inklusive Saubere-Energien-Vergütungssysteme für die Entwicklung der Kernkraft parallel zu anderen sauberen Energieformen". Ebenso sei die Politik gefordert, Anstrengungen zu unternehmen, um das Investitionsrisiko der Nuklearwirtschaft aufgrund von Unsicherheiten in der Lizensierungs- und Standortentwicklungsphase zu reduzieren. Die Politik müsse so verhindern helfen, dass die Investoren vor einer abschließenden Genehmigung eines Reaktorbaus oder vor der abschließenden Investorenentscheidung schon viel Kapital einsetzen müssen.
Mit „sauberen Energien“ bezeichnet die IEA ebenso wie die Energiewirtschaft in einigen Ländern alle Erzeugungsformen, die den Ausstoß von Kohlendioxid (CO2) als den Klimawandel vorantreibendes Treibhausgas deutlich reduzieren helfen. Dazu gehören demnach außer den erneuerbaren Energien aus Sonne, Wind, Wasser oder beispielsweise Biomasse auch die Atomkraft und sogar die Kohleverstromung in Verbindung mit der umstrittenen CCS-Technologie: Bei dieser lassen die Kohlekraftbetreiber ihre CO2-Emissionen mit modernsten Filtern einfangen und anschließend in unterirdischen Kammern verpressen – und entziehen sie so angeblich dauerhaft der Atmosphäre.
Das Zwei-Grad-Ziel von Paris sieht vor, dass die globale Klimaerwärmung im Vergleich zur vorindustriellen Zeit bei höchstens zwei Grad Celsius Temperaturzunahme Halt macht. Laut dem IEA-Report würde die Atomkraft zum Zwei-Grad-Ziel sinnvoll beitragen können, wenn ihre Kapazität bis 2060 um etwas weniger als das Dreifache im Vergleich zu heute zunehme.
Dabei ist die Pariser Agentur unter dem Dach der internationalen Organisation der entwickelten Industrieländer, OECD, offenbar noch nicht zufrieden mit den bisherigen Aussichten: Zwar habe der Zubau neuer Atomkraftwerke brutto rund zehn GW betragen und damit so viel wie seit 1990 nicht mehr. Doch „nur“ zehn Länder hätten 2016 nukleare Stromerzeugung als Teil ihrer nationalen Strategie explizit benannt, bedauert IEA. Schon bis 2025 sieht das IEA-Szenario zur Bewältigung des Zwei-Grad-Zieles für die Atomkraft eine Steigerung der derzeitigen jährlichen Einspeisung von 2.600 Terawattstunden (TWh) auf 3.750 TWh vor. Der Anteil der Atomkraft von heute 11 Prozent an der Stromerzeugung würde sich damit laut IEA trotz zeitgleichen Wachstums auch der Erneuerbaren-Kapazitäten weiter erhöhen. Die Kapazität von derzeit 413 Gigawatt (GW) sollte laut IEA-Szenario auf 529 GW bis 2025 zunehmen. Ohne die von der IEA nun geforderte zusätzliche Unterstützung aber für die Atomkraft drohe diese das Szenario-Ziel für 2025 aufgrund bis dahin abgeschalteter Alt-Kraftwerke um bis zu 90 GW zu verfehlen.
Der Welt-Nuklear-Verband bejubelte die IEA-Analyse. Der IEA-Report sei „eindeutig: Atomkraft muss eine Hauptquelle“ jener sauberen Energie sein, die für die Anforderungen der Welt in der Zukunft zuverlässig Energie liefere, sagte die Generaldirektorin der World Nuclear Association, Agneta Rising. Der Welt-Kernkraft-Lobbyverband will aber offenbar noch deutlich mehr für seine Branche erreichen, als es die IEA vorsieht. Kernkraft könne 2050 bereits so viel Strom erzeugen, um damit 25 Prozent des weltweiten Bedarfs zu liefern. Das erfordere einen Zubau von Atomkraftwerken mit Erzeugungskapazitäten von 1.000 GW in den nächsten gut 30 Jahren. Dieses Szenario der Kernkraftlobbyisten beruht übrigens auf einem von der Branche vereinbarten Ziel, das den Titel „Harmony“ trägt – Harmonie.
(Tilman Weber)