Tilman Weber
Erneut so viel wie nie in den Jahren zuvor haben die deutschen Windparks an Land und auf See in diesem Jahr eingespeist. Das ist nicht erst seit Mitte der zweiten Dezemberwoche klar. Der Rekord aus dem Vorjahr von 111,5 Terawattstunden (TWh) war schon in den letzten Novemberstunden geknackt, wie das Online-Statistik-Portal www.energy-charts.de ablesen lässt. Inzwischen sind aber auch weitere Spitzenwerte der Windverstromung des Jahres 2019 und ihr Einfluss auf die gesamte Nettostromerzeugung in Deutschland offensichtlich.
125 TWh Windstrom könnten es am Ende sein. Die Bilanz der Jahreseinspeisung 2019 kann nun fast geschrieben werden: Schon 117,73 TWh hatten die Windturbinen in Deutschland am 12. Dezember bis kurz vor Mittag – Stand: 11:47 Uhr – gemäß Online-Statistik-Portal www.energy-charts.de ins Netz eingespeist. Rund 40 Prozent des Monats hatten sie bis dahin erst Zeit gehabt, um mit bisher 6,11 TWh im Dezember den Jahresrekord auszubauen. Damit sind rund 125 TWh erzeugten Windstroms bis zum Jahresende oder sogar mehr abzusehen. Denn eine rein mathematische Hochrechnung nach dem Proportionalitätsprinzip des im Schlussmonat des Jahres bisher erzeugten Windstromvolumens würde auf 15,3 TWh im Dezember hinauslaufen. Die Windstromerzeugung würde dann Ende 2019 eine Jahresarbeit von 127 TWh erreicht haben.
Was das für die deutsche Stromversorgung bedeutet, lässt sich aus der Windstromquote ablesen: Nach einem Vorjahres-Anteil von rund 20 Prozent an der Gesamt-Nettostromerzeugung hatten die Windturbinen 2019 bis kurz vor Donnerstagmittag schon 24 Prozent des insgesamt netto in Deutschland eingespeisten Stroms geliefert, so ergibt die Datenaufbereitung durch das Institut Fraunhofer Ise, das die Internetseite betreibt.Einen neuen Spitzen-Monatswert hatten die Windparks bereits im März mit 16,65 TWh erreicht – nach dem bisherigen Monatsrekord aus dem Dezember 2017 mit 15,19 TWh.
In sechs Monaten beziehungsweise ein halbes Jahr lang hat das eingespeiste Windstromvolumen aller Wahrscheinlichkeit nach jeweils mehr als zehn TWh betragen. Eingerechnet ist hierbei schon der Dezember, weil unter Berücksichtigung des saisonal starken Windaufkommens in den Dezemberwochen und der schon eingespeisten TWh anderes eine Überraschung wäre. Im vergangenen Jahr war die Zehn-TWh-Marke an fünf Monaten übertroffen worden.
Und umgekehrt hatten die Dreiflügel-Rotoren erstmals auch in keinem Monat weniger als sechs TWh eingespeist. Den geringsten Wert erzielte die Windkraft im August mit 6,01 TWh. 2018 hatte der Turbinenbestand in zwei Monaten weniger Windstrom erzeugt: Im Juni mit 5,9 und sogar deutlich darunter im Juni mit 4,55 TWh.
Erstmals war die Erneuerbare-Energie-Ressource Wind zu mehr als der Hälfte des Jahres die wichtigste Stromerzeugungsquelle vor der Braunkohle. Gleich in acht Monaten – es zeichnet sich deutlich ab: einschließlich Dezember – kam mehr Elektrizität förmlich aus der Luft ins Netz als aus dem fossilen Rohstoff aus dem Boden. Im vergangenen Jahr hatte Wind die Braunkohle nur drei Mal übertroffen, was ebenfalls schon Rekord war.
Außerdem stellte die Windkraft auch das Stromnetz sowie das gesamte elektrische Versorgungssystem in Gestalt eines hier noch nicht erwähnten, ganz anderen Einspeiserekords unter eine neue Bewährungsprobe. Das Netz bestand sie: In der elften Kalenderwoche, Mitte März, speiste die Windkraft einen Moment lang mit 46,74 Gigawatt (GW) ins Netz ein. Der entsprechende Spitzenwert aus dem Vorjahr aus dem Dezember 2018 hatte 45,23 GW betragen. Allerdings hatte Windstille 2019 auch mehrere Einspeisesituationen entstehen lassen, in denen die Windkraft weniger als ein GW leistete.
Wie weit die Windenergiewende den Stromsektor bereits dominiert, signalisiert vielleicht noch besser eine nun erstmals überschrittene Schwelle: Im März ging mehr Windstrom ins Netz als Strom aus allen Kohlekraftwerken zusammen – ob mit Braun- oder Steinkohle befeuert.
Umgekehrt zwang die Windstromflut – in Kombination mit einem vor einigen Tagen eingestellten 45-TWh-Jahresrekord bei Photovoltaik – die Braunkohle-Kraftwerke erstmals zum häufigen und sehr starken Drosseln ihrer Leistung. Bis zum Mittag am 12. Dezember speisten diese 98,04 TWh ein. Diese Arbeit hatten die Braunkohlestromer im Vorjahr schon Ende September übertroffen. Im Gesamtjahr 2018 erzeugten sie 131,5 TWh netto.
Dabei sank die Braunkohleverstromung über das gesamte Jahr verteilt gleichmäßig ab: Von Januar bis November 2019 kam die monatliche Erzeugung aus dieser fossilen Quelle auf bestenfalls knapp zehn TWh – nach monatlichen Bestwerten von rund elf TWh und bis zu zwölf TWh in den Vorjahren 2018 und 2017. Auch im Dezember dürfte es absehbar nicht mehr werden.
Mehr noch drückte insbesondere die starke Windstromproduktion die Einspeisung aus den Braunkohlekraftwerken in mehreren Monaten auf zwischenzeitliche Leistungs-Tiefstwerte von unter fünf GW. Für den August verzeichnet das Portal sogar einmal nur 3,517 GW.
Was daraus zu lernen ist
Die Lehre aus den neuen Windstromrekorddaten beinhaltet zweierlei Botschaften: Physikalisch ist weiterhin kein Ende dafür abzusehen, dass Strom aus Wind und Sonne einen immer größeren Anteil im Netz ausmachen. Die Versorgung bleibt stabil – großflächige Stromausfälle oder kollabierende Maschinen aufgrund unsauberer Frequenzen der Elektrizität sind nicht in Sicht.
Zweitens aber wächst der Druck auf Energiewirtschaft, Erneuerbaren-Branche und Politik, dass Momente mit Fast-Null-Einspeisung aus Windkraft abnehmen. Die Akteure müssen präzise Konzepte entwickeln, am besten in gemeinsamer Arbeit, mit denen Speicher oder auch die Sektorenkopplung zur Umwandlung von Grünstrom in Wärme- oder Verkehrsantriebs-Energie die Momente mit geringen Grünstromeinspeisungen reduzieren.
Keine Macht der Dunkelflaute-Panik
Zwar waren 2019 die von Erneuerbare-Energien-Gegnern gerne zitierten Dunkelflauten von gleichzeitiger Abwesenheit von Wind und Licht selten. Im Gegenteil: Häufig glichen sich Wind- und PV-Strom-Einspeisung gut aus, wechselten ab. Doch gerade weil die Einspeisung sich technologisch schon heute fast komplett erneuerbar regeln ließe, wäre ein Verschludern beim Erarbeiten und Umsetzen solcher Konzepte nun ein Frevel.