Das entscheidende Kriterium für eine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung ist die “ausreichend konkrete Gefahr” - Stellungnahme des Conseil d’Etat.
Das höchste französische Verwaltungsgericht, der französische Staatsrat (Conseil d’Etat), hat am 9. Dezember 2022 im Rahmen eines Vorlageverfahrens eine Stellungnahme zu der Frage abgegeben, in welchen Fällen für die Genehmigung einer Erneuerbaren-Energien-Anlage eine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung (dérogation espèces protégées) erforderlich ist. Bei einer nicht ausreichend konkreten Gefahr, so die Richter, ist keine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung nötig. Die Entscheidung ist für die Entwickler von EE-Anlagen von erheblicher Tragweite, da sie die Rechtssicherheit erhöht sowie Zeit und Kosten spart.
Rechtlicher Rahmen der artenschutzrechtlichen Ausnahmegenehmigung
Im französischen Umweltrecht gilt nach Artikel L. 411-1 des Umweltgesetzbuchs (Code de l’environnement) der Grundsatz des strengen Schutzes für geschützte Tier- und Pflanzenarten; welche Arten als geschützt gelten, wird durch eine Reihe von Erlassen definiert. Verboten ist beispielsweise, unter Artenschutz stehende Tiere in ihrer natürlichen Umgebung absichtlich zu stören oder die ihnen als Fortpflanzungsstätten dienenden Lebensräume zu beeinträchtigen.
Unter bestimmten Voraussetzungen können allerdings nach Artikel L. 411-2 des Code de l’environnement Ausnahmen von diesem Grundsatz genehmigt werden. Sofern die Durchführung eines Vorhabens unter Artenschutz stehende Tier- oder Pflanzenarten oder ihre Lebensräume beeinträchtigt, muss der Träger des Vorhabens im Rahmen des Genehmigungsverfahrens dafür eine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung (dérogation espèces protégées) beantragen.
Das Problem bisher: Wann ist eine Ausnahmegenehmigung nötig?
Seit einigen Jahren herrscht eine erhebliche Unsicherheit darüber, in welchen Fällen genau eine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung beantragt werden muss bzw. wann dies entbehrlich ist. Zu diesem Thema sind von amtlicher Seite zwar mehrere Leitfäden veröffentlicht worden, trotzdem hatte sich dazu bislang keine einheitliche Lehrmeinung herausgebildet.
Dies hat für zu einer für die Träger von EE-Anlagenvorhaben außerordentlich nachteiligen Rechtsunsicherheit geführt; tatsächlich wird in der Praxis seitens der Genehmigungsbehörden, aber auch seitens der Gerichte (im Rahmen verwaltungsgerichtlicher Verfahren über die Rechtmäßigkeit einer Genehmigung oder ihrer Ablehnung) von Antragstellern häufig auch dann verlangt, eine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung zu beantragen, wenn diese in Anbetracht der Umstände des konkreten Falles und insbesondere der von der geplanten Anlage zu erwartenden Beeinträchtigung geschützter Arten objektiv gar nicht erforderlich ist.
Hier bestand also die Gefahr, dass die Beantragung einer artenschutzrechtlichen Ausnahmegenehmigung unter Missachtung der gesetzlichen Regelung systematisch und unabhängig von den Umständen des Einzelfalls verlangt wird.
Der Lösungsansatz des Gerichts und was daraus folgt
In seiner Stellungnahme hat der Conseil d’Etat nun klargestellt, unter welchen Voraussetzungen für ein Anlagenvorhaben eine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung erforderlich ist. Dies soll dann der Fall sein, wenn die mit der Durchführung des Vorhabens verbundene Gefahr für geschützte Arten als ausreichend konkret erscheint; bei dieser Einschätzung sind die vom Antragsteller vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vermeidung oder Minderung der Beeinträchtigung der geschützten Arten zu berücksichtigen.
Erscheint die Gefahr für geschützte Arten als nicht ausreichend konkret, so ist eine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung nicht erforderlich; insofern muss also nun die Genehmigungsbehörde sowie ggf. ein Gericht darlegen, aufgrund welcher Umstände eine ausreichend konkrete Gefahr für geschützte Arten gesehen wird und eine dérogation espèces protégées vom Antragsteller verlangt wird.
Die Ausfüllung bzw. nähere Konkretisierung dieses Begriffs wird nun von der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung vorzunehmen sein. Für den Träger des Anlagenvorhabens/Antragsteller bedeutet dies, dass er alles daransetzen sollte, die auch nach Umsetzung aller vernünftigerweise in Betracht kommenden Maßnahmen zur Vermeidung oder Minderung der Beeinträchtigung geschützter Arten verbleibenden Beeinträchtigungen so gering wie möglich zu halten, um so der Genehmigungsbehörde darlegen zu können, dass eine artenschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung im konkreten Fall nicht erforderlich ist.
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Autoren:
Hans Messmer und Benoît Williot, beide sind Rechtsanwälte des interdisziplinären Beratungsunternehmens Sterr-Kölln & Partner, das auf erneuerbare Energien und kommunale Energieversorgung spezialisiert ist. Standorte von Sterr-Kölln & Partner sind Freiburg, Berlin und Paris. Das 1979 gegründete Unternehmen beschäftigt rund 40 Mitarbeiter.