Ob der Aufbau der 20 Windkraftanlagen auf dem Autotestgelände in Papenburg wie von Projektierungsunternehmen UKA und Mercedes-Benz angedacht dieses Jahr beginnt, bleibt abzuwarten. Ihren großen Schritt ins Neuland der Power Purchase Agreements (PPA) für Strom aus deutschen Windparks an Land haben die Partner aber schon gemacht. Im Mai gaben sie den Abschluss des langfristigen Stromliefervertrages bekannt. Ab 2026 soll der Windturbinenpark dem Autobauer die frisch in Betrieb genommene Erzeugungskapazität von mehr als 120 Megawatt (MW) zur Verfügung stellen und rechnerisch 20 Prozent des jährlichen Strombedarfs der Mercedes-Benz-Gruppe in Deutschland abdecken.
Bis vor Kurzem waren bilaterale langfristige Stromlieferverträge für Windkraft an Land mit privaten Unternehmen bundesweit fast undenkbar. Auch im vergangenen Jahr noch konnten Windparkentwickler baugenehmigte Onshore-Windparks risikofrei in Ausschreibungen einbringen, die gemäß Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) Mindestvergütungsrechte für den eingespeisten Strom ausloben. Aufgrund nur schleppender Genehmigungen neuer Projekte und wegen vieler unklarer Regelungen im Umwelt- oder Anwohnerschutz hatten die Investoren seit Mitte 2018 fast immer deutlich weniger Erzeugungskapazitäten angeboten als von der Bundesnetzagentur nachgefragt. In den unterzeichneten Auktionen konnten sie daher stets Zuschläge auf dem Niveau der Höchstgebotsgrenze erzielen: bei gut sechs bis mehr als sieben Cent pro Kilowattstunde (kWh). Dies gilt in der Onshore-Windkraft-Branche als gut auskömmliche Basis.
Das Papenburger Windparkprojekt ist ein Vorzeigemodell für Industrieunternehmen, die zunehmend Hunger auf die großen in Deutschland an Land geplanten Windstromkapazitäten haben werden. Schon jetzt nutzt die Firmengruppe Mercedes-Benz nach eigenen Angaben nur Grünstrom in ihren deutschen Werken. Seit 2022 kommt der aus eigenen Erneuerbaren-Anlagen sowie über langfristige Lieferverträge aus Altwindparks und aus großen Freiflächenparks der Photovoltaik (PV). Denn seit für erste Altwindparks vor ein paar Jahren die 20-jährige EEG-Mindestvergütung endete, sind PPA-Verträge für genau diese Turbinen attraktiv. Von Vorteil sind sie ebenso lange schon für Offshore-Windparks, die in Ausschreibungen enormem preislichen Wettbewerb ausgesetzt sind, und noch nicht ganz so lange für große Freiflächen-Solarstromanlagen mit niedrigen Stromgestehungskosten. Erklärtermaßen will der Autobauer eine verlässliche Stromerzeugung aufstellen – und setzt auf die verschiedenen Naturkräfte, die sich dank ihrem zeitlich unterschiedlichen Aufkommen stabil ergänzen. So wird ab 2027 gemäß einem voriges Jahr unterzeichneten PPA der Iberdrola-Ostseewindpark Windanker auch noch Offshore-Strom an Mercedes-Benz liefern.
Vermarktung grünen Stroms bedeutender
Das schwäbische Autounternehmen braucht deshalb so schnell viel mehr Strom, weil es bis 2039 auch den Wärme- oder Prozessenergiebedarf noch mit grüner Energie zu langfristig kalkulierbaren Kosten decken will. Um die Attraktivität ihrer Marke zu stärken, wollen Unternehmen wie Mercedes-Benz sich glaubwürdig als nachhaltig platzieren.
Den Bedeutungszugewinn der Vermarktung grünen Stroms bestätigen nicht zuletzt die anhaltenden Übernahmen traditioneller Grünstrom-Handelsunternehmen durch internationale Energiemarktakteure. Jüngste Beispiele: Im Oktober verkaufte die Aloys-Wobben-Stiftung als Eigentümerin des ostfriesischen Windradbauers Enercon dessen Ökostromtochter Quadra Energy an Ölriese Total. Und im Januar kaufte Energiemarkt-Analysedienstleister Montel aus Norwegen die Berliner Agentur für Strompreisprognosen Energy Brainpool, die auch beim Aushandeln von Ökostrom-PPA berät.
Gerade Quadra Energy hat großes marktstrategisches Gewicht für den Investor. So ist das in Düsseldorf ansässige Unternehmen inzwischen neben Energieversorger EnBW größtes Direktvermarktungsunternehmen für deutsche Erneuerbare-Energien-Anlagen im kurzfristigen Stromhandel, wie eine Erhebung der Energiemarktzeitung Energie & Management erkennen lässt. Zugleich sind die Düsseldorfer unter diesen Direktvermarktern die größten Windkraft-PPA-Vermarkter. Für 2024 stellten sie den PPA-Kunden 1,8 GW Onshore-Windkraft zur Verfügung – auch aus neuen Windparks.
Genauere Auskunft über eigene PPA-Konzepte gibt Quadra-Energy-Chef Thomas Krings vorerst nicht. Doch jüngst hatte er in einem Interview die Stoßrichtung unter dem neuen Konzerndach verdeutlicht: Mit Total Energies im Rücken ließen sich nicht mehr nur kurzfristige Lieferverträge mit Altwindparks, sondern auch „langfristige Kontrakte mit beispielsweise 10- bis 15-jähriger Laufzeit“ anbieten. Es könnte eine Anspielung auf die von Total 2023 erworbenen Zuschläge für Windparkentwicklungsrechte in der Nordsee sein, für die der Ölkonzern in der Ausschreibung eine Zahlung von knapp sechs Milliarden Euro anbot. Könnte Quadra Energy also helfen, das Geld wieder einzuspielen? Vielleicht ebnen die Düsseldorfer erstmals mittelständischen Unternehmen den Zugang zu Offshore-Windstrom, die sonst nicht ausreichend Stromvolumen abnehmen und PPA abschließen können? Vielleicht wäre diese neue Klientel bereit, für ihren erstmaligen direkten Zugang zu dem auf See besonders stetig erzeugten Grünstrom und zugunsten stabiler Energiekosten einen fairen Aufpreis auf den Windstrom-Marktwert zu bezahlen?
Deutschland in Europa zweitgrößter Markt
Wie dynamisch der Markt ist, weiß Pexapark. Das Schweizer Unternehmen ist eine von mehreren digitalen PPA-Anbahnungsplattformen, die sich seit 2016 noch mit dem Fokus auf nichtdeutsche, andere europäische Märkte gründeten. Spätestens 2020, als Erneuerbare-Energien-Unternehmen Baywa RE sich erstmals an einer Risikokapitalfinanzierung des Unternehmens beteiligte, hatte Pexapark auch Deutschland ins Visier genommen. In ihrem vierten Marktbericht, European PPA Market Outlook 2024, analysierten die Schweizer, dass das PPA-Geschehen in Europa nun in eine „Goldene Ära“ gelange und ausgerechnet Deutschland der Treiber sei. Tatsächlich war Deutschland 2023 bei nur noch mäßigem Rückstand hinter Spanien mitführend bei langfristigen Stromverträgen. Gemäß Pexapark betrug das neu hinzugekommene deutsche PPA-Volumen 3,73 und das spanische 4,67 GW – deutlich vor dem drittplatzierten Italien mit 1,07 GW.
Europa als Kontinent insgesamt übertraf seine bisherigen PPA-Bestwerte aus dem Jahr 2021 deutlich um 2,9 GW – dank 272 neuer Abschlüsse über 16,2 GW. Vor allem die Industriekunden gewannen mit 218 Abschlüssen und 11,95 GW an Bedeutung. Kaum mehr als ein Viertel der neuen PPA-Erzeugungskapazitäten mitsamt Herkunftsnachweisen sicherten sich im Vergleich dazu die Energieversorger, um ihren Kunden eine reale Grünstromversorgung zuzusagen. Die meisten Erzeugungskapazitäten für PPA-Stromlieferungen buchten 2023 Digitalisierungsunternehmen wie insbesondere Internethändler Amazon.
Für große neue Freiflächen-Solaranlagen und Windparks waren die PPA in skandinavischen Ländern, in Großbritannien, Irland, den Niederlanden und seit 2018 zunehmend auch Spanien schon im vergangenen Jahrzehnt wichtiges Finanzierungsinstrument. Sie hatten sich dort durchgesetzt, wo die Politik gesetzliche Mindestvergütungen abgeschafft oder Grünstromquoten für Unternehmen vorgeschrieben hatte. Doch mit dem Wechsel zu Ausschreibungssystemen 2017 weg von einer fixierten Einspeisevergütung in Deutschland wurden PPA hierzulande erst für Offshore-Windkraft, dann für große PV-Parks zum Muss. So erhielten deutsche Meereswindkraftprojekte aufgrund des Unterbietens häufig nur für Null-Cent-Gebote die Ausschreibungszuschläge. Die 2022 nochmals verschärften Offshore-Windkraft-Ausschreibungsregeln, die zunehmende Zahl ausgeförderter Altwindparks sowie die Zulassung 2023 von bis zu 100 MW statt zuvor 20 MW großen PV-Freiflächen zu Solarausschreibungen erhöhten die Chancen für PPA-Stromabnehmer weiter. PV-Park-Entwickler konnten erstmals große zweistellige Megawattkapazitäten durch den Ausschreibungszuschlag grundabsichern. Während dies nur niedrige Mindestvergütungstarife ergibt, lassen sich durch zusätzliche PPA-Verträge zumindest Teile der großen PV-Parks mit etwas höheren Stromabnahmepreisen veredeln. Diese EEG-Zusatz-PPAs haben üblicherweise Laufzeiten von bis zu fünf Jahren, anders als meist zehnjährige PPAs für Projekte ohne eine EEG-Vergütung.
Der PPA-Marktberater Nicolai Herrmann registrierte, dass 2023 PV-PPAs mit rund 1,7 GW einen starken Trend setzten. Herrmann ist Geschäftsführer der Berliner Beratung Enervis, die Kunden bei der Verhandlung der oft 30 bis 50 Seiten umfangreichen PPA unterstützt.
Andererseits sieht Herrmann neue Unsicherheiten im PV-Strommarkt aufziehen, mit unklarer Wirkung. Denn politische Gegenmaßnahmen in Europa nach der Preisexplosion beim Erdgas infolge des Ukrainekrieges drückten die Stromhandelspreise zuletzt fast zurück aufs Vorkrisenniveau. Strombörsen-Futurepreise bieten für die PPA-Vertrags-
abschlüsse den Orientierungswert, können aber Krisen wie den Krieg kaum vorweg abbilden, wie Herrmann erklärt. Die Verhandelnden eines PPA verrechnen Future-Preise als Orientierungswerte mit Zukunftserwartungen, den Erzeugungsprofilen des Wind- oder Solarparks und erwarteten Werten der Grünstromherkunftsnachweise. So gab es Ende 2023 für Onshore-Windstrom noch PPA-Preise von 4,5 bis 6 und PV bis leicht unter 6 Cent pro kWh.
Bei PV-Parks dürften Investitions- und Betriebskosten kurzfristig freilich nur noch wenig sinken, weil Modulpreise schon sehr tief liegen, Netzanschluss- und Personalkosten hingegen eher ansteigen, sagt Herrmann. Deshalb würden mehr denn je vor allem sehr große PV-Parks durch sogenannte Skaleneffekte mit hohen Einnahmen aus großen Erzeugungsvolumen und mit geringeren Errichtungs- und Wartungskosten pro installierter Leistung punkten. Die Großprojekte dafür seien vorhanden: „Projektierer haben Pipelines bis in Gigawattdimensionen mit Großprojekten aufgebaut, auch in der Hoffnung auf eine verlängerte Ausschreibung für größere PV-Parks.“ Für die gelten vorerst aber wieder 20-MW-Obergrenzen.
Wie oft die Investoren wie mehrfach schon geschehen Freiflächen-PV-Großparks auch ohne Ausschreibungen nur mit PPA refinanzieren wollen – im September hatte Ölkonzern Shell ein 15-Jahre-PPA für 600 MW von Europas größtem PV-Park Witznitz unterzeichnet –, ist indes von weiteren Trends abhängig. Während Industriestromkunden möglicherweise mehr Risikopreisaufschläge für den Grünstrom zur Absicherung gegen unvorhersehbare weitere Energiemarktkrisen akzeptieren – droht zugleich die Kannibalisierung: Weil der Zubau von PV-Kapazitäten enorm ist und PV-Anlagen häufig zeitgleich Sonne haben und einspeisen, dürften Solarparks sich bildhaft künftig mehr denn je gegenseitig die Profil-Strompreiswerte abknabbern.
Um die Kannibalisierung zu umgehen, könnten die Vertragspartner sich auch auf höherwertige PPA-Grundlastverträge einigen, die fixe Stromliefermengen zusichern. Beispiele im skandinavischen Strommarkt hatten 2023 noch abgeschreckt. So versuchten die chinesischen Eigentümer des 650-MW-Windparks Markbygden 1 in Schweden 2023 einen Bankrott abzuwehren, weil der Park die per Grundlast-PPA zugesicherten 1,6 Terawattstunden pro Jahr für den Aluminiumkonzern Norsk Hydro nicht liefern konnte.
Hybrid, H2 und Co. gegen Kannibalisierung
„Energieversorger oder energieintensive Unternehmen haben weiterhin aktives Interesse an Grundlast-PPA“, analysiert der Pexapark-Experte Jens Hollstein – andere Akteure derzeit aber nicht. Dafür verzeichnet Pexapark wachsendes Interesse an PPA für grünen Wasserstoff und grünes Ammoniak. Durch Elektrolyse mit überschüssigem Wind- oder PV-Strom zur Produktion dieser flexiblen Energieträger können Parkbetreiber die Stromvermarktung bekanntlich verstetigen. Auch erste PPA für Hybridprojekte gibt es: für Windparks und PV-Flächen in Kombination mit Stromspeichern oder kombiniert miteinander, weil sie oft zeitlich versetzt einspeisen.
Die Akteure tasten sich an immer neue PPA-Konzepte heran, um eine höhere Werthaltigkeit der Lieferverträge zu erreichen. Der Analyst Filipp Roussak bei Energy Brainpool verweist dazu auf mehrere Grundlast-PPA, die das Vermarktungsunternehmen Sunnic Lighthouse für mehrere PV-Parks seines Mutterkonzerns Enerparc 2023 abgeschlossen hat, zu denen Batterien gehören. Gemäß einem dieser PPA wird Sunnic Lighthouse in jeder Stunde eines Monats eine individuell für diese Stunde vereinbarte feste Strommenge liefern. Dies berücksichtigt die tageszeiten- und jahreszeitenabhängigen Erzeugungsmöglichkeiten der einzelnen Parks.
Nicht zuletzt erleichtern PPA neue Eigenverbrauchskonzepte. Im Februar meldete die zur Sparkassen-Finanzgruppe gehörende Deutsche Anlagen Leasing (DAL) die Finanzierung ausgerechnet des größten Solarparks im oft eher dunklen Finnland. Das 32-MW-Freiflächenfeld dient Neste, einem Hersteller von nachhaltigem Flugzeugtreibstoff, grünem Diesel und erneuerbaren Rohstoffen in der Polymer- und Chemieindustrie, zur elektrischen Versorgung einer Raffinerie an seinem Standort Porvoo. Die DAL berät zu PPA-Abschlüssen und strukturiert deren Finanzierung für deutsche Unternehmenskunden wie in diesem Fall für das Betreiberunternehmen des Porvoo-Solarparks: der traditionelle Windparkprojektierer CPC Germania.