Schon in der kommenden, dritten November-Woche wollen die Verhandlungspartner einer Ampelkoalition aus SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen den Entwurf ihres Koalitionsvertrages vorlegen. Der Luxemburger Energieminister Claude Turmes, ebenfalls ein Grünen-Politiker, dürfte kaum Bewunderung für die disziplinierte Verhandlungsmentalität der drei politisch sehr unterschiedlich ausgerichteten Parteien hegen, die dadurch nur zwei Monate nach der Bundestagswahl möglicherweise schon auf die Zielgerade einer Regierungsbildung einbiegen. Im Interview im Radiosender Deutschlandfunk hatte Turmes Ende Oktober genau das allgemeine Stillhalten in Berlin kritisiert, auch weil er von den künftigen Regierungspartnern ein klares Votum gegen die erwartete Empfehlung der Europäischen Union (EU) für die Nutzung von Erdgas und Atomkraft erhofft. Die Chefbehörde des europäischen Staatenverbundes, die EU-Kommission, will bekanntlich die Erdgas-Energienutzung und die Atomkraft als nachhaltig einstufen. Die Einstufung soll dann als Richtschnur für Finanzierungen durch Banken, Fonds und Investoren gelten, was sie als klimafreundliche Geldanlage vermarkten dürfen.
Turmes hatte im Deutschlandfunk-Interview das Ausbleiben einer „Anti-Atom-Außenpolitik“ Deutschlands kritisiert. Erst habe Bundeskanzlerin Angela Merkel, deren Partei CDU nach 16 Jahren erstmals aus der Regierung ausscheiden wird, auf dem EU-Gipfel im Oktober sich nicht eindeutig gegen die Einstufung der Atomenergie als künftige Brückentechnologie positioniert. Auch das Ausbleiben einer Stellungnahme der Verhandler in Berlin sprach Turmes an: Die Positionierung der möglichen neuen Ampelkoalition in Berlin sei entscheidend, zitierte der Sender den luxemburgischen Minister im Nachbericht.
Turmes ist nicht irgendwer, sondern war als damaliger EU-Parlamentarier einer der maßgeblichen Unterhändler des Energie- und Klimapakets 202020 der EU im Jahr 2008. Die Bedeutung der Einstufung der Atom- und Gaskraft als nachhaltig würde dazu führen, dass auch Fördergelder und Beihilfen der EU-Staaten und des Staatenbundes in neue Kraftwerke fließen können, befürchten die Kritiker des zu erwartenden Vorhabens der Kommission. Diese scheint unter der Leitung der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dem Druck einer merkwürdigen Allianz um das weltweit führende Atomenergieland Frankreich nachzugeben. Frankreich hatte im Bündnis mit einem Großteil der osteuropäischen Länder für die Nachhaltigkeitseinstufung beider Technologien geworben – und zugleich für Pläne zum Bau einer Vielzahl kleiner Mini-Reaktoren mit maximal 300 Megawatt Leistung, sogenannter Small Modular Reactors geworben.
„Neue Atomkraftwerke und selbst Gaskraftwerke, die nicht dem modernsten Entwicklungsstand entsprechen, könnten dann auf einen Geldsegen hoffen“, warnte Anfang November der Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold.
Allerdings sind die Grünen in Europa ebenso wie die beiden Atomkraft-skeptischen Partner der Ampelkoalition, die deutschen Grünen und die Sozialdemokraten, merkwürdig unklar im Kurs zur – besser: gegen die – Nachhaltigkeitseinstufung. Diese hätte nach dem Willen der Kommission eigentlich schon im April stattfinden sollen – im Rahmen der sogenannten EU-Taxonomie: So nennt sich das Gesamtkonstrukt von sechs Nachhaltigkeitskriterien, die künftig über die Güte von Finanzierungsgeschäften von Banken, Fonds und Investoren entscheiden sollen. Damals hatte die EU-Kommission die Energie aus der Taxonomie herausgenommen, um über sie getrennt bis Jahresende zu entscheiden. Die Entscheidung muss bis dahin getroffen werden, weil die Taxonomie eigentlich ab 2023 wirksam sein sollten – die EU-Länder nach einer Entscheidung aber zwölf Monate Zeit zum Umsetzen haben.
Aus dem SPD-Parteivorstand hieß es Anfang November auf Nachfrage von ERNEUERBARE ENERGIEN, aus „den laufenden Koalitionsverhandlungen keine inhaltlichen Auskünfte geben“ zu können. Ein Sprecher betonte, die Verhinderung der Gefährdung einer Ampelkoalition sei vorrangig vor einer schnellen Äußerung zur EU-Taxonomie. Aus der Grünen-Bundestagsfraktion hieß es kurze Zeit darauf, wegen der Koalitionsverhandlungen lasse sich vorerst nur auf ein Interview von Grünen-Vorsitzendem Robert Habeck verweisen. Der hatte ebenfalls im Deutschlandfunk allerdings eindeutig begründen können, warum es in Deutschland keine Rückkehr zur Atomkraft als Brückentechnologie geben könne. Weil die Atomkraftwerke nicht vor 2030 ans Netz gehen könnten, seien sie auch als CO2-freie Kraftwerke nicht rechtzeitig im Spiel, um eine Alternative zu CO2-emittierenden Kohle- und Gaskraftwerken zu sein. Vor allem aber bauten neue Atomkraftkapazitäten den Druck ab, den es für einen schnellen Zubau der erneuerbaren Energien in Deutschland benötige und blockierten einen Komplettumstieg auf ein System mit rein regenerativen Energieerzeugungsanlagen.
Dass demnach der übergeordnete weiträumigere Ausbau der Kernkraft EU-Europas noch eine ganz andere, stärkere Bremsdynamik für den Ausbau erneuerbarer Energien entfalten dürfte, sagte Habeck nicht. Etwas merkwürdig mutete danach auch eine Petition einiger EU-Grünen-Parlamentarier aus mehreren Ländern an, die auch Giegold unterzeichnet hatte. Darin fordern die Grünen, dass die „Gewinnung von Strom aus Atomkraft und Gas … nicht nachhaltig“ heißen dürfe. Dass gerade die deutsche Bundesregierung gegen die Atomkraft glaubwürdig Stellung beziehen müsse, weil Deutschland den Atomkraftausstieg in Europa vorexerziert, fiel in der Richtung Atomkraft eher matt ausfallenden Petition unter den Tisch. Am Mittwoch unterschrieben immerhin 129 Nichtregierungsorganisationen aus ganz Europa einen offenen Brief an Noch-Finanzminister Olaf Scholz, in seiner weiter bestehenden Ministerposition und als wahrscheinlich nächster Bundeskanzler müsse er so schnell wie möglich ein deutsches Veto einlegen.
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