Die vergangenen Samstag versammelten 50 Bürgerinitiativen-Vertreter aus Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen wollten ihr Schreiben als Reaktion auf den „Wismarer Appell“ verstanden wissen. Ende Januar hatten die Regierungschefs der drei Nordländer sowie der Stadtstaaten Hamburg und Bremen mit diesem Appell die Bundesregierung ermahnt Kurs zu halten. Bisher will Berlin die installierte Windkraft um jährlich 2,5 Gigawatt (GW) erhöhen. Gemäß einem Eckpunkte-Papier aus dem Bundeswirtschaftsministerium könnte die im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) von 2014 verankerte 2,5-GW-Vorgabe mit der EEG-Reform 2016 aber aufgegeben werden. Die Eckpunkte sehen eine deutlich geringere Untergrenze von 2,0 GW brutto vor – wobei die Leistung abgebauter alter Windräder nicht einmal durch entsprechend mehr Zubau an Neuanlagen kompensiert werden soll.
Der Appell war ein willkommener Anlass für die Bürgerinitiativen, für ihre Maximal-Forderung reichlich Aufmerksamkeit in regionalen Medien zu gewinnen. Als Vorbild nehmen sie sich die 10-H-Regel in Bayern: Eine auf Betreiben des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer 2014 von der Bundesregierung erlassene Länderöffnungsklausel erlaubt es den Bundesländern, einheitliche Abstandsvorgaben für neue Windparks zu verabschieden. In Bayern gilt so seit November 2014, dass neue Turbinen nicht näher an Siedlungen gebaut werden, als das Zehnfache ihrer Gesamthöhe. Bei modernen Windenergieanlagen bewirkt die Regel zehnfache Höhe (10-H) eine Bannzone von zwei Kilometer um die Ortsränder. Bisher waren Abstandsregeln den Regionalplänen vorbehalten, in denen Landkreise und Kommunen sehr verschiedene Abstände von maximal 1.000 Meter vorgaben.
Stillstand ist eigentliches Ziel der Bürgerinitiativen
Die 10-H-Regel bringt den Windkraftausbau in Bayern bereits zum Stillstand, weil kaum windhöffige Fläche übrig bleibt. Das Wissen darüber dürfte auch Ansporn der norddeutschen Windkraftgegner sein. Stillstand ist ihr Ziel: Ein weiterer unbegrenzter Ausbau von Windkraft-Anlagen entspreche nicht dem Willen der Bürger, teilte ein Initiativen-Sprecher mit. Die Regierung solle das EEG ganz abschaffen, verlangen die Briefeschreiber.
Mit Schutz der Anwohner hat ihr Brief also nur am Rande zu tun. Auch aus anderen Gründen ist er unseriös: So wurde 10 H als Forderung einer Volksinitiative bereits im Dezember vom Parlament Mecklenburg-Vorpommerns abgelehnt. Die Volksinitiative hatte mit einer Unterschriftensammlung zusätzlich 20 Kilometer Abstand neuer Windparks von der Küste gefordert, was das Parlament ebenfalls ablehnte. In Brandenburg hat der Landtag seit Ende 2014 die 10-H-Regelung zwei Mal abgelehnt. Auch Thüringen folgte einem ähnlichen Vorstoß einer Anti-Windkraft-Petition nicht.
Der Ungeist ist aus der Flasche
Lässt sich der Brief also abheften? Leider nein. Denn der Widerstand gegen Windkraftvorhaben wächst bundesweit. Länderöffnungsklausel und 10-H-Regelung in Bayern, scheint´s, ließen den Ungeist aus der Flasche.
Vielleicht ist dessen Schrei nach 10-H auf höchster Ebene politisch gewollt. Wahr ist aber auch: Die Dimension neuer Windenergieanlagen von 200 Metern Gesamthöhe und künftig 20 Meter mehr lässt sich im unvermeidbaren Streit um neue Standorte nicht mehr vernachlässigen. Wer einmal von der verhältnismäßig kleinen südbadischen Anhöhe Kaiserstuhl über die Rheintalebene auf die Silhouette des drei Mal höheren Hochschwarzwalds geblickt hat, verdrängt den Eindruck nicht mehr so leicht: Bizarr das Panorama verändernde Windenergieanlagen stecken auf dem Mittelgebirge wie Nadeln in einem indischen Fakir. Dass es Heimatverbundene hier gruselt, muss diesen nicht verdacht werden.
Widerstand an Projektstandorten wächst
Die Zubau-Statistik für 2015 zeigt, wie der Widerstand gerade in den Boomländern der starken Ausbaujahre seit 2011 wirkt. In Rheinland Pfalz, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Schleswig-Holstein brach der Brutto-Zubau im Vergleich zum Vorjahr um zusammen 42 Prozent oder 1.372 Megawatt (MW) auf 1.893 MW ein. Lediglich der kumulierte Mehrausbau von 240 MW in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg rettete der deutschen Windbranche ihr zweitbestes Ausbaujahr. In beiden Bundesländern griffen 2011 eingeführte Ausbaugesetze, nachdem dort die Installationstätigkeit lange Zeit eher still stand – und Bürgerinitiativen noch nicht befeuerte.
Doch der Widerstand mit der 10-H-Formel wäre zu packen. Allerdings nicht durch Missachtung nach einer Ablehnung im Landtag. Vielmehr müssten die Pro-Windkraft-Parteien die Bürgerinitiativen in ihrer größten Schwäche pieken: Dass sie nur Verhinderungsplanung anstreben, aber keine Lösung vermeintlich gemeinter Probleme. Zugleich sollten sie sogar den schwierigen Konsens mit der 10-H-Bewegung suchen und dabei riskieren, nicht alle Nutzungsflächentypen offen halten zu können.
Dabei riskierte sie vielleicht Streit zwischen ihren Branchenunternehmen, weil je nach vorgesicherten Flächen das eine oder das andere Unternehmen sich benachteiligt sehen würde. Technisch aber ließe sich der unmöglich erscheinende Konsens so ansteuern: Landespolitik und Windbranche müssten am runden Tisch Anti-Windkraft-Vertreter fragen, welches ihrer Ziele ihnen am wichtigsten wäre – und welche nachrangig. Sie müsste sie damit konfrontieren, dass das Bundesziel des Ausbaus der Windkraft um jährlich 2,5 Gigawatt erfüllt werden muss und ihr Bundesland einen entsprechenden Mindestzubau erreichen muss.
Vier-Optionen-Wahl für alle Windkraftskeptiker
Dann ließen sich Optionen vorlegen: Option 1: „Wollt Ihr vor allem den Blick aus Eurem Wohnzimmer frei halten? Dafür ließen sich maximal Mindestabstände einer Größe X einrichten – wenn alle nicht gesetzlich notwendigen Beschränkungen entlang Wanderwegen oder im Wald wegfielen.“ Option 2: „Wollt ihr auch Tourismus-Räume vor Windparks bewahren? Dann wäre ein nur noch verminderter Mindestabstand zu euren Wohnungen möglich.“ Option 3: „Wollt ihr am liebsten landschaftliche Sichtachsen freihalten und mit uns definieren, in wie viel Himmelsrichtungen Ihr Windräder zu sehen bereit seid oder wie sich Landschaftsräume ohne und solche mit Turbinen abwechseln dürfen?“ Option 4: „Wollt ihr lieber kleinere Windräder und dafür viel mehr?“
Die Beschlüsse müssten regional getroffen werden – zum Beispiel jeweils einmal pro Bundesland. Schon heute gibt es diese Konsenssuche: im Diskussionsprozess der Regionalpläne. Nur müssen die Regionalpläner viel mehr Interessen als die der Anwohner vereinen, demokratischer Bürgerwille droht hier immer unterzugehen.
Soll der Windkraftausbau trotz gesetzlicher Ausbaubremse anhalten, sind Landschafts- und Wohlfühl-Schutz nicht gering zu schätzen. Politisch ließe sich ein standardisierter Konsensbeschluss, so er durch Landtagsbeschlüsse demokratisch abgesichert wird, als Signal nutzen. Dieses trüge einige Jahre lang – bis die Wirkung wegen der sich ändernden Lebensumstände der Menschen nachlässt. Aber das Wichtigste: 10-H wäre vom Tisch. Denn eine bundesweite Konsens-Bewegung erzeugte auch Druck auf das ehemalige Boom-Bundesland Bayern, dem Beispiel der anderen Länder zu folgen.
(Tilman Weber)