Nicole Weinhold
Schwarz auf Weiß liegen jetzt die Fakten auf dem Tisch. Agora Energiewende und Agora Verkehrswende haben heute ein Paket von 15 Maßnahmen vorgestellt, mit denen Deutschland seinen CO2-Ausstoß so weit senken kann, dass das Klimaschutzziel für 2030 zu drei Vierteln erreicht wird - Flugverkehr und Landwirtschaft nicht eingeschlossen, diese könnten dann das fehlende Viertel CO2-Einsparung ableisten. Bei dem Vorschlag von Agora für die Bereiche Energiewirtschaft, Gebäude, Verkehr und Industrie geht es um die Einführung eines CO2-Preises auf Heizöl, Erdgas und Kraftstoffe, wobei die dadurch erzielten Einnahmen vollständig rückverteilt werden. Vorgesehen ist zudem eine gesetzliche Verankerung des Kohlekompromisses sowie die Förderung der energetischen Sanierung von Gebäuden. Außerdem zählen die Verdoppelung des Ausbaus erneuerbarer Energien sowie eine Klima-Bonus-Malus-Regelung beim Autokauf zu dem Maßnahmenbündel. Agora hat damit 15 Eckpunkte für das Klimaschutzgesetz geliefert, das die Bundesregierung in diesem Jahr verabschieden will. Alle Vorschläge inklusive konkreter Gesetzesänderungen sind so konzipiert, dass sie noch 2019 vom Bundeskabinett beschlossen werden können.
Graben zwischen Gesellschaft und Politik
„Nie war der klimapolitische Graben zwischen Gesellschaft und Politik grösser als heute: Hundertausende Bürgerinnen und Bürger gehen für ambitionierten Klimaschutz auf die Straße. Unternehmen überprüfen ihre Geschäftsmodelle auf Klimarisiken. Umweltverbände legen umfassende Maßnahmenpakete zur Erreichung der Klimaziele vor und ThinkTanks wie Agora präsentieren die nötigen Gesetzentwürfe. Und von der Bundeskanzlerin kommt – nichts", prangert Kai Niebert, Präsident des Umweltdachverbandes Deutscher Naturschutzring (DNR) die Regierung im Zusammenhang mit der Veröfentlichung des Maßnahmenpaketes von Agora an. "Während sich die Fridays, Scientists, Educators, Parents, Artists, Entrepeneurs for future gründen, haben wir Politik from yesterday." Deutschland sei vom Klimaschutzweltmeister zur Klimabremse Europas geworden. Die Bundesregierung müsse jetzt einen Blitzstart für den Klimaschutz hinlegen, sonst habe sie jegliches Restvertrauen verspielt. "Dazu gehört, noch vor der Sommerpause die wesentlichen Maßnahmen im Klimaschutz abzustimmen und so schnell wie möglich in Gesetze zu gießen. Agora hat die Eckpunkte vorlegt. Jetzt heißt es: Frau Kanzlerin – übernehmen Sie!“
Deutschland muss jährlich doppelt so viele Emissionen reduzieren wie bisher
„In diesem Jahr entscheidet sich, ob Deutschland seine rechtlich verbindlichen Klimaziele für die Jahre bis 2030 erreichen kann“, sagt Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende. „Dazu muss Deutschland seine Emissionen um 25 Millionen Tonnen CO2 jährlich reduzieren. Das ist weit mehr als das Doppelte dessen, was wir aktuell schaffen und damit wirklich ambitioniert.“ In den vergangenen Jahren verminderte Deutschland seine Emissionen im Mittel um rund zehn Millionen Tonnen CO2 jährlich – überwiegend in den Bereichen Stromerzeugung und Gebäuden. In der Industrie und beim Verkehr verharrt der CO2-Ausstoß hingegen seit Jahren auf gleichem Niveau. „Leider haben es frühere Bundesregierungen versäumt, die Verkehrswende rechtzeitig einzuläuten. Deshalb sind jetzt unverzüglich umso größere Anstrengungen notwendig“, sagt Christian Hochfeld, Direktor von Agora Verkehrswende.
Agora warnt: Sollte die Bundesregierung den Klimaschutz weiter auf die lange Bank schieben, muss sie im nächsten Jahrzehnt Steuergelder in Höhe von 30 bis 60 Milliarden Euro an andere EU-Staaten zahlen, um dort Emissionsrechte für die in Deutschland fehlenden Treibhausgasminderungen zu erwerben.
Die Eckpunkte im Einzelnen:
Sektorübergreifend
1. Klimaschutz als Rahmengesetz: Das Klimaschutzgesetz schreibt die Klimaschutzziele für 2030, 2040 und 2050 sowie Ziele für die Sektoren Energie, Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft und Industrie für die Jahre 2021 bis 2030 verbindlich fest. Die jeweiligen Ressorts sind für die Einhaltung verantwortlich, können Minderungsverpflichtungen jedoch untereinander verschieben.
2. CO2-Preis in den Sektoren, die nicht unter den EU-Emissionshandel fallen: Die Energiesteuern auf Benzin, Diesel, Heizöl und Erdgas werden um einen Aufschlag in Höhe von 50 Euro pro Tonne CO2 ergänzt. Die Einnahmen werden an die Bevölkerung zurückverteilt: Jede und jeder erhält im Jahr 100 Euro Klimaprämie, mit Ausnahme der 20 Prozent einkommensstärksten Menschen. Für besonders von der CO2-Bepreisung betroffene Menschen wird ein Härtefall-Fonds eingeführt. Klima-Sofortprogramme unterstützen die Bürgerinnen und Bürger beim Umstieg auf klimafreundliche Alternativen.
3. Klimarisiken für den Finanzmarkt transparent machen: Akteure am Finanzmarkt weisen in ihren Geschäftsberichten ihre jeweiligen Klimarisiken aus. Dabei werden die finanziellen Klimarisiken für drei Szenarien anhand von CO2-Schattenpreisen in Höhe von 50, 100 und 200 Euro pro Tonne CO2 berechnet.
Energiewirtschaft
4. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz zukunftssicher aufstellen: Die Ausbauziele für Solarstrom werden auf fünf Gigawatt pro Jahr verdoppelt, für Windkraft an Land auf vier Gigawatt angehoben und es werden bis 2030 20 Gigawatt Windkraft auf See installiert. Dazu werden Grünstromverträge außerhalb des EEG ermöglicht, Eigenverbrauchsoptionen gestärkt und die Auktionsmengen für Erneuerbare Energien erhöht. Zur Steigerung der Akzeptanz von Windrädern erhalten Kommunen für neue Windparks eine Windabgabe, Bund und Länder einigen sich zudem auf eine gemeinsame Flächenkulisse.
5. Der Kohleausstieg wird gesetzlich verankert: Der Kompromissvorschlag der Kohlekommission wird eins-zu-eins umgesetzt.
6. Sofortprogramm grüne Wärmenetze: CO2-arme Wärmequellen sollen künftig dezentral in Fernwärmenetze einspeisen können. Die dafür nötigen Umrüstungen werden über eine Novellierung des KWK-Gesetzes finanziert. Diese soll außerdem die Umrüstung von Heizkraftwerken mit Kohlefeuerung auf Gasfeuerung wirtschaftlich absichern.
Gebäude
7. Gebäudeenergiegesetz nach dem Stand der Technik für Neubau und Sanierung: Neue Gebäude dürfen künftig nur noch in klimafreundlicher Weise errichtet werden, Sanierungen von Bestandsgebäuden müssen die Energiestandards erfüllen, die heute für Neubauten gelten. Auch für solche verpflichtenden Sanierungen können zukünftig im vollen Umfang Förderungen in Anspruch genommen werden.
8. Steuerliche Abschreibung und Zuschüsse für energetische Gebäudesanierung: Ab 2020 werden energetische Sanierungen steuerlich gefördert. Dies erfolgt über Gutschriften auf die Steuerschuld. Besonders hochwertige Sanierungen werden zusätzlich gefördert. Die Förderquote für die energetische Sanierung im sozialen Wohnungsbau wird um 50 Prozent erhöht, diese Kosten dürfen nicht auf die Miete umgelegt werden.
Verkehr
9. Modernisierung der Pkw-Flotte durch ein Bonus-Malus-System beim Kauf neuer Autos: Käufer von Pkw mit einem CO2-Ausstoß von weniger als 95 Gramm pro Kilometer erhalten einen Bonus, Käufer von Pkw mit einem höheren CO2-Ausstoß zahlen einen Malus. Bonus und Malus betragen jeweils 50 Euro je Gramm Abweichung von diesem Schwellenwert. Reine Elektro-Fahrzeuge werden dadurch mit rund 5.000 Euro gefördert, Fahrzeuge mit einem Ausstoß von beispielsweise 200 Gramm CO2 pro Kilometer um rund 5.000 Euro verteuert. Das System kann weitgehend aufkommensneutral gestaltet werden. Zusätzlich wird ein Sofortprogramm für eine flächendeckende und nutzerfreundliche Ladeinfrastruktur aufgelegt.
10. Lkw-Maut ausweiten und CO2-Schadenskosten integrieren: Als Sofortmaßnahme gilt die Lkw-Maut künftig für alle Nutzfahrzeuge mit mehr als 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht und auf allen Straßen. CO2-freie Fahrzeuge zahlen auch weiterhin weniger. Im Jahr 2020 setzt sich die Bundesregierung bei den Verhandlungen zur EU-Maut-Richtlinie dafür ein, dass die CO2-Schadenskosten und weitere externe Kosten des Lkw-Verkehrs vollständig in die Maut einbezogen werden.
11. Mobilitätswende in den Städten fördern: Die Kommunen erhalten mehr Geld vom Bund zur Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs sowie des Rad- und Fußverkehrs. Der Bund erweitert die Handlungsspielräume der Kommunen für das Parkraummanagement. Die Deckelung der Gebühren für Bewohnerparkausweise und Bußgelder für Falschparken wird aufgehoben. Die dadurch erzielten Einnahmen und die freiwerdenden Flächen können für die Stärkung klimafreundlicher Verkehrsträger genutzt werden.
Industrie
12. Förderung von Effizienz-Investitionen: Die Industrie kann Investitionen in Effizienz fünf Jahr schneller steuerlich absetzen. Regulatorische Hemmnisse für Effizienz und Flexibilisierung werden abgebaut.
13. Quote für klimafreundlichen Wasserstoff: Ab 2021 müssen Gashändler dem Erdgas in zunehmenden Maße CO2-neutralen Wasserstoff beimischen – zunächst 0,5 Prozent. Bis 2030 steigt die Quote auf 10 Prozent. Damit wird der Einstieg in die grüne Wasserstoff-Wirtschaft ermöglicht.
14. Markteinführungsprogramm für CO2-freie Technologien in der Industrie: Das Bundesumweltministerium stockt noch in diesem Jahr sein entsprechendes Förderprogramm auf 500 Millionen Euro auf. Zudem erhalten Unternehmen von 2020 an durch ein neues Gesetz einen Rechtsanspruch darauf, dass die Differenz zwischen den Kosten für CO2-Zertifkate und ihren eigenen Kosten für die CO2-Vermeidung erstattet wird. Das gilt zunächst für die Stahl-, Zement- und Chemieindustrie, später auch für weitere Branchen.
Europa
15. Deutschland setzt sich in Brüssel 2019/2020 für sechs Initiativen ein, die unabdingbar sind, um einen schlüssigen Rahmen für den Klimaschutz in der EU zu schaffen. Dazu zählen ein Beihilfe-Rahmen, der konsistent mit den EU-Klimaschutzzielen ist, ein Klima-Schwerpunkt im EU-Budget, ambitionierte Regelungen in der neuen Maut-Richtlinie und der neuen Gas-Verordnung sowie die Unterstützung von EU-Mitgliedstaaten, die sich für ambitioniertere EU-Klimaziele 2030 und 2050 einsetzen.
Mit diesen Maßnahmen erreiche die Bundesregierung ungefähr drei Viertel der Emissionsminderungen, die für das Klimaschutzziel 2030 notwendig sind, sagt Agora-Direktor Patrick Graichen. Es sei klar, dass ein einziges Instrument das niemals alleine leisten könne. "Nur ein Instrumenten-Mix wird das Klima erfolgreich schützen. Klar ist aber auch, dass es nicht bei diesen Maßnahmen bleiben kann: Auch Landwirtschaft und Flugverkehr werden noch Beiträge leisten müssen, damit das Klimaschutzziel 2030 sicher erreicht wird.“
Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energie (BEE), begrüßt die Vorschläge von Agora: Diese zeigten deutlich, durch welche Maßnahmen die Klimaschutzziele für 2030 national, sektorspezifisch und ganz konkret erreichbar sind. "Nachvollziehbar wird darauf hingewiesen, dass ambitionierte und zeitnahe Mehranstrengungen notwendig sind. Ein Abwarten ist grundfalsch. Es braucht jetzt Entscheidungen und in diesem Jahr einen verbindlichen gesetzlichen Rahmen." Dies könne angesichts der Komplexität nicht erst nach den Landtagswahlen im Herbst vorbereitet werden, kommentiert BEE-Präsidentin Simone Peter.