Warum setzen Sie so auf die Verfassungsbeschwerden gegen die sogenannte naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative der Umweltbehörden bei der Genehmigung neuer Windparks?
Hartwig Schlüter: Diese Einschätzungsprärogative ist ein Letztentscheidungsrecht, dass der naturschutzfachlich beratenden Genehmigungsbehörde von der Rechtsprechung eingeräumt wurde. Ich setze wie die Kläger darauf, dass unsere Rechtsauffassung bestätigt wird, dass Verstöße gegen den Ermittlungsgrundsatz, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, das Willkürverbot und andere Grundrechte erkannt werden.
Warum gleich drei Verfassungsbeschwerden zu dem einen Streitpunkt der Einschätzungsprärogative?
Hartwig Schlüter: Es müsste Hunderte geben, wenn es nach mir ginge. Schauen Sie sich die rechtlichen Umstände der derzeitigen Genehmigungspraxis doch einmal an: In der Rechtsprechung zum Artenschutz ist etwas generell schief. Das liegt an den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts aus den Jahren 2008 und 2013, in denen eben der Genehmigungsbehörde die naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative zugestanden wurde. Die Instanzengerichte, Umweltbehörden und die Genehmigungsbehörden orientieren sich überwiegend unkritisch an dieser rechtlichen Auffassung. So lässt mir zum Beispiel das Thüringer Umweltministerium von der oberen Naturschutzbehörde und der staatlichen Vogelschutzwarte ausrichten: „Zur Frage der Bearbeitung nach ausschließlich wissenschaftlichen Kriterien wird festgestellt, dass der zuständigen Behörde eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative zukommt.“ Hierbei berücksichtigen die Behörden aber nicht wirklich, dass das Bundesverwaltungsgericht in 2008 tatsächlich gesagt hat, dass Artenschutzbelange sowohl bei der Erfassung als auch bei der Bewertung nach – ausschließlich – wissenschaftlichen Kriterien zu bearbeiten seien.
Welche sind das?
Wissenschaftliche Kriterien sind letztlich die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis – wie sie z.B. von der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1998 formuliert wurden. Demzufolge bewegen sich die Behörden und Gerichte bei der Sachverhaltsermittlung zu artenschutzrechtlichen Belangen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich. Es geht hierbei um Kompetenzen im Bereich Versicherungsmathematik, da es um die Risikoermittlung durch quantitative Risikoanalysen geht. Und es geht um Kompetenzen im Bereich der wissenschaftlichen Qualitätskontrolle. Für Risikoanalysen mit den Methoden der Versicherungsmathematik und wissenschaftliche Qualitätskontrollen fehlt den Richtern aber die Fachkompetenz. Richter müssen natürlich nicht überall selbst den Sachverstand haben. Aber sie müssen dann bei der Sachverhaltsermittlung externen Sachverstand beiziehen –genau das ist im Zusammenhang mit Artenschutzbelangen bei Windprojekten nicht geschehen.
Sie sagen, das machen die durchweg nicht, …
Hartwig Schlüter: Ja.
Was bedeutet es für die Verfassungsbeschwerden, dass diese jetzt zur Einholung von Stellungnahmen durch das Verfassungsgericht an das Bundesjustizministerium, das Bundesverwaltungsgericht, die Bundesrechtsanwaltskammer und den Deutschen Anwaltsverein weitergereicht wurde?
Hartwig Schlüter: Es bedeutet zumindest, dass man sich beim Bundesverfassungsgericht zu dem Thema nun Gedanken macht. Das Bundesverfassungsgericht hat nach Erhalt aller Stellungnahmen noch alle Freiheiten, sich auf die eine oder andere Weise zu entscheiden. Es könnte die Sache an die Kläger ohne Begründung zurückschicken. Eine Antwort mit Begründung wäre dann zukünftig bei Behörden- und Verwaltungsgerichtsentscheidungen zu beachten. Alternativ könnte es das Verfahren auch an das Oberverwaltungsgericht zurückweisen, damit dieses unter Berücksichtigung von Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eine korrigierte Entscheidung herbeiführt. Und natürlich könnte das Gericht auch sagen: „Kommt mal alle zur Verhandlung nach Karlsruhe.“
Die Sache habe „der zuständigen Kammer noch nicht zur Entscheidung über die Annahme der Verfassungsbeschwerde vorgelegen“ schreibt der Vizepräsident des Verfassungsgerichts Paul Kirchhof allerdings auch noch in demselben Brief, in dem er jetzt die Kläger über die eingeholten Stellungnahmen informierte.
Hartwig Schlüter: Das geschieht rein vorsorglich, damit auf der Klägerseite nicht unzutreffende Erwartungen geweckt werden. Allerdings halte ich es für bemerkenswert, dass nur Stellungnahmen bei Juristen angefordert wurden und nicht auch bei Naturwissenschaftlern.
Können Sie sich den vorstellen, dass die naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative ganz fällt?
Hartwig Schlüter: Sie ist aus meiner Sicht komplett rechtswidrig. Als ihr Erfinder wird der damalige Vorsitzende Richter am Bundesverwaltungsgericht Ulrich Storost angesehen. Jahre nach der ersten Entscheidung 2008 – dabei ging es übrigens um die Autobahnumgehung von Bad Oeynhausen – bezeichnete Storost selbst die Einschätzungsprärogative als „spezifisch deutsche Zauberformel“. Im Klartext also: Eine Zauberformel, mit der Sie – Simsalabim – über jeden Sachverhalt hinwegfegen können.
Also können Sie sich tatsächlich vorstellen, dass die Einschätzungsprärogative ganz fällt?
Hartwig Schlüter: Ja. In diesem Aufsatz, in dem Richter Storost von der Zauberformel spricht, argumentiert er zugleich, dass das Gericht an seiner Funktionsgrenze angekommen sei und daher die Einschätzungsprärogative erforderlich sei. Doch genau das stimmt nicht. Die Rechtsprechung ist vielmehr bei der Ermittlung und Beurteilung von Artenschutzbelangen an ihrer Kompetenzgrenze angelangt. Es ist fachlich geboten, Risiken mit Hilfe von quantitativen Risikoanalysen zu ermitteln. Bei uns Naturwissenschaftlern erzeugt daher manches Urteil richtiggehend Unwohlsein. So etwa, wenn das Bundesverwaltungsgericht ausführt, dass ein Vorhaben genehmigungsfähig sei, „wenn das Kollisionsrisiko für Tiere einer geschützten Art nicht signifikant höher ist als das allgemeine Lebensrisiko“. Gerichte vermeiden es dann in der Regel, die verwendeten Begriffe zu definieren. Das allgemeine Lebensrisiko ist das Synonym für die durchschnittliche Lebenserwartung. Ein Rotmilan stirbt nach durchschnittlich drei Jahren. Das Risiko an einer Windmühle zu kollidieren, liegt jedoch als Teilrisiko im einstelligen Prozentbereich. Dieses Teilrisiko ist also immer kleiner als das allgemeine Lebensrisiko – und damit macht der zuvor zitierte gerichtliche Maßstab keinen Sinn. Wir sehen: In der Rechtsprechung wird also frei mit Begriffen jongliert und Maßstäbe werden nicht an Beispielen erläutert. Stattdessen wird gezaubert.
Um welche weiteren Rechtsgrundsätze geht es denn noch?
Hartwig Schlüter: Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle hat in einem Vortrag an der Uni Bonn sinngemäß gesagt, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei der wesentliche Grundsatz bei der Abwägung von Rechtsgütern. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besagt, dass Sie den Einzelfall – das Einzelrisiko, das von einer Windenergieanlage ausgeht – im Gesamtzusammenhang betrachten müssen. Denn genauso, wie Sie einen Hauptgewinn beim Lotto nicht vorhersagen können, können Sie bei einer Windenergieanlage auch für deren 30 Betriebsjahre keinen Rotmilantod vorhersagen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird in der Praxis permanent ignoriert. Es unterbleibt in der Rechtssprechungspraxis zum Beispiel, den „geduldeten“ Stromtod von Greifvögeln an Masten von Mittelspannungsleitungen der Netzbetreiber und der Deutschen Bahn in Relation zu Kollisionen an Windenergieanalgen ins Verhältnis zu setzen. In die Bestände von Rotmilanen werden durch Stromschlag regelrechte Schneisen geschlagen: Die Greifvögel setzen sich zwischen die Isolatoren auf den Leitungsmasten. Kommen Sie dann beim Abfliegen aus Versehen an die Leiterseile, trifft sie ein Stromschlag. Diese Verluste könnten nahezu vollständig vermieden werden.
Sie deuten an, dass die Windkraft vermutlich viel weniger Opfer erfordert und daher unverhältnismäßig klein im Vergleich zum erlaubten Netzausbau ist. Enthebt diese Unverhältnismäßigkeit die Windkraft auf vorerst als dann ihrer Verantwortung beim Vogelschutz?
Hartwig Schlüter: Nein. Es geht um die angemessene Eingrenzung des unbeabsichtigten Tötens von Tieren der geschützten Arten durch Windenergieanlagen. Hier muss zwischen dem Vorsorgegrundsatz und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abgewogen werden. Diese Abwägung kann natürlich nur auf einer verlässlichen Datengrundlage erfolgen. Sofern sich die Naturschutzbehörden an den Auftrag des Bundesnaturschutzgesetzes halten und Bestandsermittlungen und eine differenzierte Ermittlung von Mortalitätsraten bei den geschützten Arten durchführen, sollte eine vernünftige Datengrundlage vorliegen. Dann ließe sich auch beurteilen, ob bei einer Art zum Beispiel am besten Bestandstützungsmaßnahmen zu ergreifen sind. Nach unserer Erfahrung geben Umweltbehörden die relevanten Daten aber nur zögerlich raus.
Im schlimmsten Fall aber würde doch dasselbe Vorsorgeprinzip bedeuten, dass man weder neue Stromtrassen, noch neue Straßen oder auch Windenergieanlagen baut, oder?
Hartwig Schlüter: Nein, nein. Vorsorge pur würde in der Tat bedeuten, dass sie nichts bauen – daher gibt es die Abwägung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.Zuerst geht es also richtigerweise beim Vorsorgegrundsatz darum, dass es dem Rotmilan möglichst gut gehen soll. Dann aber haben Sie auch ein Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit: Diejenigen, die ein Windprojekt realisieren wollen, dürfen das demnach auch, wenn rechtlich nichts im Wege steht. Wie gesagt, ist es nach den Ausführungen des Verfassungsrichters Di Fabio erforderlich, dass bei der Abwägung von Grundrechtseinschränkungen die Anforderungen an Sachverhaltsermittlungen sehr hoch sein müssen. Hier hat der Staat eine Bringschuld. Er muss demnach alles, was er ermittelt hat, auch offenlegen. Erst wenn die Sachverhaltsermittlung erfolgt ist und nachdem ein Maßstab nachvollziehbar hergeleitet wurde, kann abgewogen werden.
Fürchten Sie bei dieser Beachtung aller Rechtsgrundsätze nicht längere Genehmigungsverfahren?
Hartwig Schlüter: Nein. Denn Maßstab und Spielregeln wären dann klar. Da wäre als erstes die Bagatellgrenze zu klären: Sterben unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu viele Rotmilane an Windenergieanlagen? Falls das Ergebnis ein Nein ist, wäre die Frage generell vom Tisch. Falls das Ergebnis ein eingeschränktes Nein ist, müssten Maßnahmen geprüft werden, die zu einer Reduktion der Kollisionsrate führen. Das kann die Vermeidung des Anlockeffektes durch Kleinsäuger in der Mastfußbrache sein und/oder die Absperrung der Zugriffsfläche oder Kranstellfläche mit Hilfe von Brettern und Blechen sein – analog zur Absperrung des Baufeldes bei Straßenbauprojekten, die eine Ansiedlung von Hamstern vermeiden soll.
Wollen Sie am Ende alles erlauben, nur weil Sie ohnehin keine Vorhersagen treffen können?
Hartwig Schlüter: Nein. Die Ermittlung der Todesursachen von Rotmilanen, auch die quantitativen Ermittlungen dazu, werden tatsächlich reihenweise gemacht. In Thüringen sind fast 40 Rotmilane mit einem GPS-Empfänger versehen worden und man bekommt auf diese Weise umfangreiche Daten zur Raumnutzung. Leider sind die relevanten Daten aus nicht nachvollziehbaren Gründen streng geheim. Tatsächlich aber könnten sie verdeutlichen, was beim Nahrungsopportunisten Rotmilan besonders beliebte oder unbeliebte Plätze sind. Stirbt ein Rotmilan an einem Strommast oder einer Windenergieanlage, so ließe sich sofort analysieren, ob diese Stelle in der Vergangenheit besonders häufig angeflogen wurde und ob es dafür offensichtliche Gründe gab – etwa eine hohe Kleinsäugerpopulation. Ferner ließen sich aus den Daten Maßnahmen zur gezielten Ausweitung der Kapazitätsgrenze des Naturraums ableiten, um so die Rotmilanpopulation zu steigern.
Das Interview führte Tilman Weber