Es wird von einem Gründungsboom gesprochen, so viele Energiegenossenschaften haben sich seit der Jahrtausendwende in Deutschland gebildet. Aktuell sind es knapp 900, in denen sich Bürger zusammenfinden und die Energiewende selbstorganisiert in die Hand nehmen. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: die Vereinfachung des Genossenschaftsrechts 2006, wodurch nur noch drei statt sieben Gründungsmitglieder benötigt werden, und natürlich das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) zur bevorzugten Einspeisung von Strom aus regenerativen Energiequellen. Die Förderung über das EEG ließ bis zur Novelle 2014 vor allem die Zahl der Bürgersolaranlagenbetreiber stark ansteigen.
So viele Energiegenossenschaften gab es zuletzt Anfang des 20. Jahrhunderts. Da waren es sogar noch mehr: rund 6.000 Stromgenossenschaften. Von denen entstanden die meisten nach dem Ersten Weltkrieg. Sie übernahmen damals die Versorgung des ländlichen Raums und bauten das Verteilnetz aus. Grund dafür war ein mangelndes wirtschaftliches Interesse großer Energieunternehmen, in nur wenig besiedelten Gebieten aktiv zu werden. Rechtlich abgesichert wurden diese frühen Selbsthilfevereinigungen durch das erste deutsche Genossenschaftsgesetz (GenG), das 1869 für den Norddeutschen Bund und ab 1889 für das gesamte Deutsche Reich Gültigkeit erhielt.
Heute gibt es von den zu Anfang des 20. Jahrhunderts gegründeten Energiegenossenschaften nicht mehr viele. Der Großteil ist umstrukturiert oder mit anderen Versorgungsunternehmen im Zuge der Gründung von Stadtwerken zusammengelegt worden. Gerade mal 46 Energiegenossenschaften, die vor 1931 gegründet wurden, existieren noch. Eine davon hat ihren Sitz in Wittmund.
Nahe der Nordsee im ostfriesischen Land liegt die Stadt. Bereits im Jahr 1922 wurde hier eine Energiegenossenschaft gegründet und übernahm die selbstorganisierte Stromversorgung von Wittmund. Dafür erhielt die Genossenschaft das Konzessionsrecht für die Netze – und hat diese bis heute inne. Selbst zwei der ursprünglichen Mitglieder sind nach all den Jahren noch mit dabei: die Wittmunder Klinkerwerke und die katholische Kirche.
Alt und erfahren
Während andere Energiegenossenschaften mit der Zeit verschwanden, blieb die Wittmunder Genossenschaft bestehen. Simon Habben, gegenwärtiges Vorstandsmitglied und für die Projektierung zuständig, erklärt dies wie folgt: „Wir haben hier in Wittmund über all die Jahre einen sehr hohen Rückhalt von den Stadtbewohnern erfahren.“ Gleichzeitig habe die Energiegenossenschaft seit jeher auf lokale Partner gesetzt und sich damit in der Region langfristig etablieren können. „Hinzu kommt, dass wir alle Vorhaben mit den Bürgern kommunizieren. Aufklärung und Einbindung sind entscheidend, wenn man so lange bestehen will.“
Das Alter weckt Vertrauen. Das spiegelt sich in aktuell steigenden Mitgliederzahlen und den Vorhaben der letzten Jahre wider. So wird seit 2010 nicht mehr nur das Stadtgebiet versorgt, sondern auch über Wittmunds Grenzen hinaus der norddeutsche Raum. Kurz darauf ist der Gasverkauf hinzugekommen, erklärt Helga Schüler, die für den Energieeinkauf und -vertrieb zuständig ist. Und auch neue Regenerativ-Anlagen sind in Planung.
Bisher hat die Energiegenossenschaft Wittmund drei Windkraftanlagen, wovon zwei Anlagen vom Typ Enercon E40 direkt am Stadtrand stehen. Hinzu kommen elf Photovoltaik-Anlagen auf eigenen und angemieteten Dächern. Mit der Mischung aus Solar und dem Schwerpunkt auf Windkraft ist die Genossenschaft breit und zukunftsorientiert aufgestellt. Nun wird ein bestehender Windpark aus der Region um eine Anlage des Typs Enercon E82 erweitert, ein anderer ganz neu gebaut und mit sechs Anlagen vom Typ Enercon E101 ausgestattet. „Damit erweitern wir unser Kontingent um ein Vielfaches“, sagt Simon Habben und fügt stolz hinzu: „Wir werden dann mehr Strom produzieren, als wir bisher vertreiben.“
Jung und frisch
Während die Wittmunder auf eine 92-jährige Geschichte zurückblicken, ist die Gründung der Energiegenossenschaft Lehrte gerade mal vier Jahre her. Zunächst wurde das Vorhaben einer Bürgersolaranlage im Stadtrat angesprochen. Dann trat die Bürgermeisterin Jutta Voß an geeignete Gründungsmitglieder heran und überzeugte sie von der Idee. Mit Rainer Eberth, Diplomingenieur und Geschäftsführer der Stadtwerke Lehrte, und Volker Böckmann, einem versierten Prokuristen bei der Volksbank, konnte sie zwei qualifizierte Unterstützer gewinnen.
Im Dezember 2010 war es dann soweit und die Energiegenossenschaft Lehrte nahm ihre Geschäfte auf. Gleich zu Beginn zählte die Neugründung 64 Mitglieder, die gemeinsam ein Investitionskapital von 182.000 Euro aufbrachten. Dadurch gelang es, noch im gleichen Monat eine erste Photovoltaik-Anlage auf der Kindertagesstätte in Ahlten zu errichten und in Betrieb zu nehmen. Im Folgejahr erweiterte sich die Genossenschaft bereits um Mitglieder aus der Nachbargemeinde Sehnde, sicherte sich weitere große Dachflächen in der Region und schaffte es, bis 2012 insgesamt 89.690 Quadratmeter Photovoltaik zu installieren. Der produzierte Strom kann mittlerweile über die Stadtwerke bezogen werden. Der Lehrte-E.eG-Natur-Strom ist dabei nur unwesentlich teurer als der bereits durch die Stadtwerke angebotene Tarif.
Segel setzen
Eine Fortsetzung im Bereich der Photovoltaik ist trotz des bisherigen Erfolgs nicht geplant: „Wir werden keine neuen Photovoltaik-Anlagen bauen, da durch die neuen Gesetze zur Regenerativstromförderung der Bau wirtschaftlich unattraktiv geworden ist“, sagt Rainer Eberth und streicht dabei nachdenklich über seinen grau melierten Vollbart. Stattdessen soll es nun in Richtung Windkraft gehen. Dabei sollen die Bürger mit ins Boot geholt werden.
„Bei solchen Windanlagen kann man den Leuten direkt zeigen: Hier wird der Strom produziert, den ihr verbraucht. Wenn die Anlagen in der Nachbarschaft nicht irgendeiner Investmentgesellschaft gehören, sondern der Genossenschaft, in der man selber Mitglied sein kann, dann werden sie deutlich eher akzeptiert“, meint Eberth. Flächen für Windenergieanlagen sind prinzipiell vorhanden. Momentan scheitert es an der in Lehrte vorgeschriebenen Höhenbegrenzung von 100 Metern. „Anlagen, die dort noch gebaut werden dürfen, rentieren sich wirtschaftlich nicht. Wir hoffen auf eine baldige Änderung der Beschlusslage und sind dafür bereits an die Politiker herangetreten“, erklärt Böckmann.
Das Interesse der Bürger an Windkraftanlagen ist durchaus vorhanden: „Manche wollten sich bei Photovoltaik-Anlagen nicht beteiligen, meinten aber, dass sie mitmachen, wenn wir auf Windkraft setzen“, sagt Eberth. „Sobald sich uns jetzt eine Möglichkeit für eine wirtschaftlich rentable Anlage bietet, werden wir die nutzen.“ Das Kapital dafür ist vorhanden. Lange kann es also nicht mehr dauern, bis die Energiegenossenschaft Lehrte-Sehnde ihre erste Windkraftanlage aufstellt.
(Andreas Fründt)
Dieser Artikel ist in der Printausgabe von ERNEUERBARE ENERGIEN von September 2014 erschienen. Gefällt er Ihnen? Holen Sie sich jetzt ein kostenloses Probeabo unseres Magazins.