Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein Politiker die längere Nutzung der Atomenergie in Deutschland als Ausweg aus der Energiekrise preist. Ein Standardargument dabei: Atomkraftwerke liefen zuverlässig rund um die Uhr, anders als die volatilen Quellen Sonne und Wind.
Ein Irrtum, wie eine neue Kurzanalyse von Energy Brainpool im Auftrag der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy zeigt. Atomkraftwerke fallen demnach deutlich häufiger für die Stromproduktion aus als vergleichbare Kraftwerke. So waren in Frankreich seit dem Jahr 2018 im Schnitt nur 66 Prozent der installierten AKW-Leistung abrufbar. Die Verfügbarkeit der Meiler für die Versorgung lag damit rund ein Drittel unter der von Gas- und Wasserkraftwerken. „Laufzeitverlängerungen für bestehende Reaktoren sind für die Sicherheit der Energieversorgung tatsächlich als weniger effektiv einzuordnen als nachhaltige Investitionen in andere Kraftwerkstechnologien“, so das Fazit von Analyst Michael Claußner von Energy Brainpool.
Frankreich: Verfügbarkeit verschlechterte sich pro Jahr um 4 Prozentpunkte
„Die jahrzehntealten Atomkraftwerke sind kein Baustein einer sicheren Energieversorgung, sondern Risiko und Hemmschuh für den Ausbau erneuerbarer Technologien – das gilt für Frankreich ebenso wie für Deutschland“, sagt Sönke Tangermann, Vorstand bei Green Planet Energy – und ergänzt: „Was bringt uns eine Erzeugungstechnologie, auf die wir uns nicht verlassen können, wenn es darauf ankommt?“
Im untersuchten Beispielland Frankreich verschlechterte sich laut Analyse die Verfügbarkeit der dortigen Reaktoren langfristig im Schnitt um vier Prozentpunkte pro Jahr. Im April und Mai 2022 wurden dort sogar historische Tiefstwerte erreicht: Mehr als die Hälfte der installierten Kraftwerksleistung in Frankreich stand in diesem Zeitraum still. Die Folgen: Die Strompreise im Land schossen auf historische Höchstwerte – und Frankreich dürfte 2022 laut Analyse erstmals seit langer Zeit wieder Nettostromimporteur werden, statt überschüssigen Strom zu exportieren.
Chefs der französischen Energiekonzerne rufen gemeinsam zum Energiesparen auf
Auch vor diesem Hintergrund könnte sich ein Aufruf erklären, der in der jüngsten Ausgabe der Zeitung „Journal du Dimanche“ erschien. In großer Einmütigkeit und deutlichen Worten rufen die Chefs der drei größten Versorger zum Stromsparen auf. Grund seien die hohen Energiepreise und die unsichere Gasversorgung durch den Krieg in der Ukraine, schreiben Catherine MacGregor, Generaldirektorin von Engie, Jean-Bernard Lévy, Präsident und Generaldirektor von EDF, Patrick Pouyanné, Präsident und Generaldirektor von Totalenergies. Außerdem seien die steuerbaren Stromerzeugungskapazitäten in Europa aufgrund von nationalen Entscheidungen oder Wartungsprogrammen angespannt. Die Wasserkraftproduktion werde durch Wetterbedingungen und Dürren beeinträchtigt. „Wir rufen daher zu einer Bewusstseinsbildung und zu kollektiven und individuellen Maßnahmen auf, damit jeder von uns - jeder Verbraucher, jedes Unternehmen - sein Verhalten ändert und seinen Verbrauch von Energie, Strom, Gas und Erdölprodukten sofort einschränkt“, heißt es in dem Aufruf.
Grund für Ausfallzeiten: Instandhaltung, Inspektion, Schäden und Brennstoffsparmaßnahmen
Die hohen Ausfallzahlen in Frankreich sind laut Energy Brainpool sowohl auf geplante Instandhaltungsmaßnahmen und Inspektionen zurückzuführen als auch auf auch strategische Drosselungen zur Einsparung von Brennstoff. Hinzu kommen Abschaltungen wegen aufgetretener Schäden an den Anlagen, wie etwa Korrosionen. Prognosen des Betreiberkonzerns EDF deuten laut Analyse darauf hin, dass sich die Versorgung mit Atomstrom weiter verschlechtert: Für 2023 erwartet EDF demnach nur noch eine Produktion von 300 bis 330 Terawattstunden, „der niedrigste Wert seit 30 Jahren“, so Energy Brainpool.
„Ergebnisse auf Deutschland übertragbar“
„Die Probleme der mangelnden Versorgungssicherheit lassen sich auch auf Deutschland übertragen“, sagt Sönke Tangermann. Die drei hierzulande noch verbliebenen Meiler – Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 – sind jeweils mehr als 30 Jahre alt. Ungeklärt ist, wie groß der technische Nachrüstbedarf für eine Laufzeitverlängerung ist – und auch, ob die AKWs dafür längere Zeit vom Netz genommen werden müssten. Bisher zurückgestellte sicherheitsrelevante Prüfungen und Instandhaltungsarbeiten müssten jedenfalls nachgeholt werden. (kw)
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