Ein Energiesystem, das ausschließlich auf erneuerbaren Energien basiert, ist auch in Deutschland bis 2035 realisierbar. Das ist das Ergebnis einer Studie von Agora Energiewende, die zusammen mit den Marktanalysten von Prognos und Consentec erstellt wurde. Diese zeigt auch, welche Schritte notwendig sind, um dieses Ziel in die Tat umzusetzen. Zentraler Baustein ist natürlich der schnelle Ausbau der Erzeugungskapazitäten für Ökostrom, hier vor allem Photovoltaik und Windkraft, sowie eine entsprechende Ertüchtigung des Netzes. Die Bundesregierung müsse dafür die notwendigen Prioritäten jetzt anschieben, statt sich lange mit Kohle oder Gas aufzuhalten.
Mit Ökoheizung unabhängig vom Gas der Autokraten
Denn die Sektorenkopplung haben die Analysten von Agora Energiewende gleich mitgedacht. So sei beispielsweise eine flexible Einbindung von Elektrofahrzeugen und Wärmepumpen, Elektrodenkesseln und Elektrolyseuren ein zentraler Teil dieses neuen Systems. Dadurch wird auch das Problem der Abhängigkeit von Gaslieferungen aus aller Welt gelöst, gleichzeitig mit der Vermeidung eines überproportionalen Netzausbaus. Denn neben den Ökostromanlagen setzt Agora Energiewende auch auf regelbare Kraftwerke, die bereit für den Betrieb mit grünem Wasserstoff sind.
15.000 Netzkilometer aus- und umbauen
Der Netzausbau müssten dennoch weiter vorangetrieben werden. So sei der Ausbau des Übertragungsnetzes um 40 Prozent bis 2035 unumgänglich. Die Analysten rechnen mit einen nötigen Netzaus- und Netzumbau von zusätzlichen 15.000 Stromkreiskilometern im Jahr 2035 für ein klimaneutrales Stromsystem. Außerdem müssten die Technologien für Systemdienstleistungen und den effizienten Umgang mit Netzengpässen gefördert werden. Wichtig sei vor allem aber auch eine integrierte Systemplanung von Stromnetzen und Wasserstoffinfrastruktur statt der aktuell überwiegend getrennten Planung. Denn nur so könne der Infrastrukturausbau sinnvoll und kostensparend vonstatten gehen.
Regionen mit viel Ökostrom zahlen wenig fürs Netz
Zusätzlich sollten die Netzentgelte reformiert werden, damit beispielsweise die flexible Einbindung von Elektrofahrzeugen, Wärmepumpen, Elektrodenkessel und Elektrolyseuren angereizt wird. Außerdem erfordere ein System mit 100 Prozent erneuerbaren Energien im Jahr 2035 ein ganzes Bündel von Maßnahmen zur Systemsicherheit und effiziente Lösungen im Umgang mit Netzengpässen. Dazu gehöre auch, die Netzentgelte so auszugestalten, dass die Verbraucher in Regionen mit einen hohen Anteil von erneuerbaren Energien weniger zahlen als Verbraucher in Regionen, in denen der Ausbau ausgebremst wird.
Erzeugung und Verbrauch angleichen
Ein solches geografisches Preissignal im Stromsystem sorge auch für ein zuverlässiges Zusammenspiel von Erzeugung und Verbrauch. „Wir müssen das Ziel einer vollständig erneuerbaren Stromversorgung so schnell wie möglich erreichen. Gerade angesichts der aktuellen fossilen Energiekrise ist das wichtiger denn je“, sagt Simon Müller, Direktor Deutschland bei Agora Energiewende. „Ein erneuerbarer Stromsektor ist zudem das Fundament der Klimaneutralität: Im Verkehr, beim Heizen und in der Industrie ist die Verfügbarkeit von grünem Strom die Voraussetzung für das Erreichen der Klimaziele.“
Regenerative Stromproduktion bis 2030 verdoppeln
Konkret müsse die Menge an erneuerbarer Stromproduktion von heute 243 auf 595 Terawattstunden pro Jahr schon bis 2030 mehr als verdoppelt werden. Bis 235 müsste sie dann auf 845 Terawattstunden steigen. Schließlich wird in Zukunft mehr Strom für Wärme und Elektromobilität gebraucht. Zeitweise Überschüsse können dann in Form von Wasserstoff gespeichert und bei Bedarf zurückverstromt werden. Dadurch werde auch der CO2-Ausstoß in den Bereichen Industrie, Verkehr und Gebäude massiv reduziert. „Die Weichen, die wir jetzt für eine klimaneutrale Stromversorgung bis 2035 stellen, tragen direkt zum Klimaerfolg in allen anderen Sektoren bei“, beschriebt Müller den Zusammenhang.
Windgebiete schneller klären
Um die benötigten Erzeugungskapazitäten zu errichten, müsste die Bundesregierung den Zeitplan straffen. Dazu gehört auch die Vorgabe an die Bundesländer, die zwei Prozent der Landesfläche für Windenergie früher ausweisen sollten, als es bisher vorgesehen ist. Diese sollten auch die Vereinbarkeit von Artenschutz und Windkraft klären. „Indem die Bundesregierung jetzt das Ausbautempo bei Solarenergie und Windkraft an Land konsequent erhöht, können wir in den nächsten vier Jahren ein Ausbauniveau erreichen, das uns bis 2035 zu einem klimaneutralen Stromsektor führt“, Betont Müller.
Um die Investitionen in die Ökostromanlagen abzusichern, schlagen die Experten von Agora Energiewende vor, mit den Betreiber von Windkraft- und Solaranlagen langfristige Stromlieferverträge abzuschließen und eine symmetrische Marktprämie einzuführen. Diese garantiert den Anlagenbetreibern eine feste Einspeisevergütung, erfordert aber ab einem bestimmten Gewinn durch die Betreiber auch eine Rückzahlung.
Flexiblen Verbrauch belohnen statt bestrafen
Zusätzlich dazu sind Voraussetzungen für den flexiblen Stromverbrauch notwendig. Die Analysten schlagen hier unter anderem Preissignale vor, um es den Besitzern von Elektrofahrzeugen, Wärmepumpen, Elektrodenkesseln und Betreibern von Elektrolyseuren oder Batteriespeichern schmackhaft zu machen, regenerativen Strom in den Stunden zu verbrauchen, wenn er üppig vorhanden ist. Das wäre endlich der notwendige Paradigmenwechsel. Denn bisher werden flexible Strommengen durch hohe Netzentgelte bestraft. „Die längst überfällige Reform der Netzentgelte ist die entscheidende Stellschraube, um bei neuen Verbrauchern und in der Industrie einen flexiblen Betrieb anzureizen“, sagt Müller. „Es braucht eine schnelle Lösung noch in diesem Herbst, damit wir für neue Elektroautos und Wärmepumpen gleich die Flexibilitäten fördern, die hohe Anteile Erneuerbarer Energien absichern.“
Die Studie steht zum kostenlosen Download auf der Internetseite von Agora Energiewende bereit. (su)