Nach der Richtlinienentscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Atomstreit innerhalb der Regierungskoalition stellt sich die Frage: Bringt der Weiterbetrieb des Atomkraftwerks Emsland tatsächlich den von Scholz und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sowie großen Teilen seiner Partei behaupteten Vorteil. Denn vor allem FDP-Politiker betonen immer wieder, dass der Weiterbetrieb nicht nur für Gaseinsparungen sorge, sondern auch die Strompreise mindere und das Stromsystem in Deutschland stabilisiere – eine Annahme, der Olaf Scholz mit seiner Entscheidung offenbar jetzt gefolgt ist.
0,4 Prozent Gaseinsparung möglich
Dass sowohl Scholz als auch die FDP-Politiker damit zielsicher auf dem Holzweg gelandet sind, zeigt eine Analyse durch die Experten von Energy Brainpool im Auftrag der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy. So belief sich der gesamte deutsche Gasverbrauch im Jahr 2020 auf 875 Terawattstunden. Das AKW Emsland könnte davon – aufs Gesamtjahr gesehen – laut Berechnungen von Energy Brainpool maximal drei Terawattstunden kompensieren. Damit könnten durch das AKW im Nordwesten Deutschlands also lediglich 0,4 Prozent des hiesigen Gasverbrauchs eingespart werden. Diese Zahl gelte aber nur, wenn der Atommeiler das gesamte Jahr 2023 über weiterlaufen würde, was ohnehin nicht vorgesehen ist. Bei einem Weiterbetrieb nur bis April 2023 fällt der ersetzte Gasanteil noch deutlich geringer aus.
Kernkraftwerk liefert keine Wärme
Dies liegt vor allem auch daran, dass ein Kernkraftwerk, das im Grundlastbetrieb läuft, immer noch kein wärmegeführtes Gaskraftwerk ersetzen kann. Letzteres bedeutet, dass laut Eurostat erdgasbetriebene Heizkraftwerke 25 Prozent des Erdgases in Deutschland verbrauchen. Fast alles wird hier für Fern- oder Prozesswärme verbraucht, wobei die Stromproduktion ein Zusatznutzen dieser Kraftwerke ist, aber nicht der eigentliche Grund, warum sie laufen.
Emsland senkt Stromkosten nur marginal
Doch auch die Behauptung, der Weiterbetrieb des Kernkraftwerks Emsland würde die Strompreise dämpfen, ist falsch. So geht aus dem Hintergrundpapier von Energy Brainpool hervor, dass das Weiterlaufen aller drei Kernkraftwerke – also Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim – im gesamten Jahr 2023 die Strompreise um etwa einen Cent pro Kilowattstunde absenken können. „Betrachtet man auch hier nur das eine AKW im Emsland auf der Basis von nur drei statt zwölf Monaten Laufzeit, so ist die entlastende Wirkung allenfalls homöopathisch“, kritisiert Sönke Tangermann, Vorstand bei Green Planet Energy, die Entscheidung des Bundeskanzlers.
Atomstrom staut sich an den Netzengpässen Richtung Süden
Auch der Nutzen des Kernkraftwerks für die Stabilität des Stromsystems in Deutschland ist nahezu Null. „Emsland speist seinen Strom weit entfernt von den innerdeutschen Netzengpässen und weitab von den Grenzkuppelstellen Richtung Frankreich ein“, erklärt Fabian Huneke von Energy Brainpool. Genau dort – in Süddeutschland und in Frankreich – wird aber zusätzlicher Strom benötigt. Doch auch ohne diesen Fakt würde das Kernkraftwerk Emsland bei hoher Stromnachfrage nur etwa 1,7 Prozent diese Nachfrage decken können. „Der Nutzen des letzten norddeutschen Atomreaktors in der jetzigen Energiekrise ist verschwindend gering und sein Weiterbetrieb energiewirtschaftlich nicht zu rechtfertigen – vor allem angesichts der damit einhergehenden Kosten und Risiken“, fasst Tangermann die Analysen von Energy Braunpool zusammen. Zu diesen Risiken zählt laut Tangermann auch die gewachsene Gefahr von gezielter Sabotage an Atomanlagen in Deutschland. „Nach den Vorfällen bei der Bahn und den Nord-Stream-Pipelines müssen wir dieses Risiko auch mit Blick auf Atomkraftwerke unbedingt ernst nehmen“, warnt der Green-Planet-Energy-Chef.
Das gesamte Hintergrundpapier finden Sie zum Download auf der Webseite von Green Planet Energy. (su)
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