Anya Heider
Manche Innovation stößt erst einmal auf Widerstände und Denkblockaden: „Erneuerbare Energien können auch langfristig nicht mehr als vier Prozent unseres Strombedarfs decken.“ Im Jahr 1993 schalteten die deutschen Energieversorger großflächige Anzeigen, auf denen diese Botschaft verbreitet wurde. Davon waren viele konventionelle Stromversorger in Deutschland vor der Energiewende noch überzeugt. Im letzten Jahr wurde mit 42,6 Prozent dagegen bereits mehr als das Zehnfache dieser Zahl von regenerativen Erzeugern gedeckt! So kann man sich irren.
Das Beispiel der Unterschätzung des Potenzials erneuerbarer Energien scheint sich nun zu wiederholen: Heute erheben sich vielfach zweifelnde Stimmen, welche die Systemstabilität durch einen hohen Anteil dieser Technologien als gefährdet ansehen. Eine unterbrechungsfreie und sichere Stromversorgung sei in Gefahr, so die Kritiker.
Gefährdet die Energiewende die Systemstabilität?
Was sind die Argumente? Im Stromsystem müssen Erzeugung und Verbrauch stets ausgeglichen sein, damit die Systemsicherheit gewährleistet werden kann. Die bisherige Struktur sah dabei vor, dass die Stromerzeugung Verbrauchsprognosen folgt und somit den benötigten Ausgleich schafft. Das Problem: Volatile Erzeugung aus Wind und PV folgt ihrem ganz eigenen Fahrplan, den das Wetter vorgibt. Die Erzeugung ist dadurch schwer steuer- und vorhersagbar und es kommt zu stärkeren Schwankungen und Unsicherheiten in der durch die verbleibenden Kraftwerke zu deckenden Last. Flexibilität vornehmlich auf Seiten der Erzeugung zu suchen, wie es vorher üblich war, ist also das falsche Rezept.
Das Systemdesign ist ausgelegt auf das konventionelle Energiesystem
Auch im konventionellen Energiesystem, dessen Erzeugung hauptsächlich auf fossilen und nuklearen Großkraftwerken basierte, musste das System für unvorhergesehene Ereignisse wie den Ausfall von Kraftwerken oder das Abschalten großer Lasten gewappnet sein. Maßnahmen für den sicheren Betrieb des Stromsystems, unter anderem der Ausgleich von Erzeugung und Verbrauch und das Abfedern unvorhergesehener Ereignisse, bezeichnet man auch als Systemdienstleistungen. Diese wurden bisher hauptsächlich durch flexible Spitzenkraftwerke und Pumpspeicherkraftwerke gedeckt.
Viele der Aspekte rund um die Sicherung der Systemstabilität bei hohen Anteilen fluktuierender Erneuerbarer Energien lassen sich unter dem Themenkomplex der Flexibilität im Stromsystem zusammenfassen. Flexibilität ist dabei die Fähigkeit des Systems auf unvorhergesehene Änderungen in Erzeugung oder Verbrauch zu reagieren.
Ist Flexibilität also ein Problem der Erneuerbaren?
Keineswegs. Erneuerbare Erzeuger sind viel flexibler als Kern- oder Kohlekraftwerke, die sie im Erzeugungsmix ersetzen sollen. Die Geschwindigkeit, mit der sie ihre Erzeugung ändern können, ist sehr viel höher. Allerdings reizen die aktuellen Regularien noch keine Fahrweise an, in der sich Wind oder PV bei Systemdienstleistungen einbringen. Auch die Unwirtschaftlichkeit von Pumpspeicherkraftwerken im Speziellen und Speichern im Allgemeinen liegt zu großen Teilen an fehlenden wirtschaftlichen Anreizen. Die bisherige Regulatorik ist stark auf die konventionelle Erzeugungsstruktur ausgelegt. Es existiert beispielsweise eine Regelung, die Verbraucher dazu anreizt, eine hohe Benutzungsstundenanzahl zu erreichen, was einen sehr gleichmäßigen Verbrauch bedeutet. Dieser lässt sich gut mit unflexiblen Basiskraftwerken decken. Die Problematik der Flexibilität ist also mehr eine des Systemdesigns als eines der erneuerbaren Erzeuger.
Neu denken: Mix an Flexibilitätsoptionen schafft Systemsicherheit
„Die Systemstabilität bleibt bei hohen Anteilen erneuerbaren Energien gewährleistet“, meint dazu das BMWi in seiner Analyse des sich wandelnden Energiesystems. Wie das funktionieren soll? Durch die Einbindung von flexiblen Erzeugungsanlagen, flexiblen Verbrauchern und Speichern. Durch die Anpassung der Systemdienstleistungen an die neue Erzeugungsstruktur. Durch das volle Ausschöpfen unterschiedlichster Ressourcen zum Ausgleich von Stromerzeugung und –verbrauch.
Das Energiesystem befindet sich im Wandel, die Regulatorik muss sich anpassen
Nicht nur erneuerbare Erzeuger verändern das System. Es gibt viele neue Entwicklungen, die zum aktuellen Wandel beitragen: Prosumer und die Teilhabe der Bevölkerung am Energiemarkt, neue digitale Messtechniken, die einen angepassten Verbrauch ermöglichen, die Elektrifizierung von Wärme und Verkehr durch Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge, die Entwicklung neuer Speichertechnologien, Brennstoffzellen und vieles mehr. Viele dieser neuen Entwicklungen und Technologien können auch zur Bereitstellung von Flexibilität genutzt werden.
Flexibilisierte Verbraucher, virtuelle Kraftwerke
Der Lösungsraum ist also groß: flexibilisierte Verbraucher, virtuelle Kraftwerke, Energiezellen, überregionaler Austausch durch ausreichende Netzinfrastruktur, Nutzung von Speichern, flexible Kraftwerke auf Basis von synthetischen Kraftstoffen. Es ist an uns, diese Potenziale auch zu nutzen.
Andere Länder machen es uns vor. Dänemark stellte beispielsweise die Regulatorik für Blockheizkraftwerke um, sodass diese in Zeiten hoher Windproduktion ihre Stromproduktion herunterfahren. In Irland wurde dank der Implementierung eines eigenen Flexibilitätsmarktes der erste Großbatteriespeicher zur Bereitstellung von Systemdienstleistungen fertiggestellt. In den USA werden verschiedene neue Marktprodukte erprobt, um die Nutzung flexibler Ressourcen für die Sicherung der Systemstabilität anzureizen. Es gibt also vielseitige Ansätze für eine mögliche Flexibilisierung.
Veraltete Regularien gefährden die Systemstabilität, nicht die Erneuerbaren
Die Systemstabilität ist nicht durch einen hohen Anteil Erneuerbarer Energien gefährdet, sondern durch Regularien, die noch nicht ausreichend auf das neue Energiesystem angepasst wurden. Wir brauchen also eine mutige Umstellung der Regulatorik unseres Stromsystems. Weg von Paragraphen, die für unflexible konventionelle Großkraftwerke ausgelegt wurden und hin zu einem System, das auf erneuerbaren Erzeugern basiert um eine treibhausgasneutrale und klimafreundliche Energieversorgung zu gewährleisten.
arbeitet als Promovendin am RLS-Graduiertenkolleg. Sie befasst sich mit einer holistischen Flexibilitätsbetrachtung des deutschen Energiesystems. Dafür analysiert sie technische und marktbezogene Optionen vorhandener und potenzieller Flexibilität. Weiter Artikel der Reiner-Lemoine-Stiftung unter der Rubrik Energiesystemwende finden Sie hier. Bleiben Sie über die weitere Entwicklung zur Flexibilisierung auf dem Laufenden. Abonnieren Sie dazu unseren kostenlosen Newsletter! Hier können sie sich anmelden.