„Die Schwierigkeit besteht nicht so sehr darin, neue Ideen zu entwickeln, als vielmehr darin, sich alter zu entledigen.“ Dieses Zitat von John Maynard Keynes trifft die aktuelle Situation auf dem Wärmemarkt sehr gut. Erneuerbare Energien aktivieren das Gestaltungspotenzial der Bürger auf regionaler, kommunaler und Stadtteil-Ebene. Bei der Wärmeversorgung sind lokale, kommunale, regionale Lösungen die Regel, selbst dann, wenn von Fernwärme die Rede ist. Die Stromversorgung kann sich in die gleiche Richtung bewegen – wenn der Ausbau sinnvoll gesteuert wird. Steuerung meint aber nicht technokratische Kontrolle. Denn erneuerbare Energien erlauben den Bürgern, nicht nur zu meckern, zu mahnen, Petitionen zu zeichnen und zu protestieren, sondern eine gewünschte Veränderung vor Ort autonom-konstruktiv herbeizuführen. Genau dies hatten die Väter des Gesetzes für den Vorrang Erneuerbarer Energien (EEG) vermutlich bezweckt. Denn sie wussten: Keine andere gesellschaftliche Kraft als der Bürgerwille ist in der Lage, die alten Energiestrukturen durch neue zu ersetzen.
Die erste Phase der Energiewende hatte daher ein einfaches Ziel: Signifikante Kostenreduzierung durch Massennachfrage. Dies ist im Jahr 2014 weitgehend erreicht. Zu verdanken ist dies denjenigen Bürgern, die ab 2000, teilweise früher, bereit waren, ihre Ersparnisse in anfangs sehr teure Technik zu investieren. Die Risikofreude ist durch die EEG-Vergütung belohnt worden, die aber für heutige Mikro-Energiewirte dank eingebauter Vergütungs-Degression auf einen Bruchteil geschrumpft ist.
Fluktuierende Technik nutzen
Die zweite Phase der Energiewende peilt weiterreichende Ziele an. Die technischen Herausforderungen sind hinreichend beschrieben. Darüber hinaus muss sich Deutschland nun aber auch entscheiden, welche Strukturen den Transformationsprozess aufrechterhalten sollen. Welche Strukturen und Akteure sind gewillt und langfristig am besten geeignet, eine Energieversorgung zu gewährleisten, die die vergleichsweise kleinen, überwiegend fluktuierend einspeisenden Techniken optimal nutzt. Soll das bestehende Fernstrom-System erweitert, gar auf europäische Dimensionen skaliert werden – vor allem, um Konzernen ohne erneuerbares Geschäftsmodell Neuinvestitionen in konventionelle Großkraftwerke zu ermöglichen? Oder muss angesichts der geschätzten rund 1,4 Millionen kleinen Einspeiser grundsätzlich umgebaut werden? Welche Rolle spielt eine gleichmäßige Verteilung aller Techniken über alle Regionen, die durch einen regionalen Ansatz provoziert wird?
Energieavantgarde Anhalt
In der Region Anhalt ist ein breites und stetig wachsendes Bündnis von Akteuren der Meinung, dass ein avantgardistischer Impuls nun zeigen muss, welche Kraft der Energiewende innewohnt. Zumindest dann, wenn Gemeinden, Landkreise und Regionen einen regionalen Strommarkt auf Basis erneuerbarer Energien begründen. Dieser soll zunächst parallel zum bestehenden Stromsystem wachsen und von Beginn an auf eine Förderung durch das EEG verzichten. Insbesondere soll der erzeugte Strom innerhalb der Region vertrieben und verbraucht werden. Dabei sind keine Ideologen, wohl aber verantwortungsvolle Unternehmer am Werk. Das zeigt vor allem eine treibende Kraft im Zentrum des regionalen Stromsystems: die vollständig kommunalen Stadtwerke Dessau. Dort läuft der längst abgeschriebene Kohlemeiler angesichts günstiger CO2-Zertifikate auf Hochtouren. Die Gasturbine dagegen steht still und erwirtschaftet dabei Geld, weil sie bei Bedarf dem Regelenergiemarkt zur Verfügung steht. Wärme erzeugten die Stadtwerke in der Vergangenheit vorrangig selbst und für alle – die Kraftwerke arbeiten in Kraft-Wärme-Kopplung und wärmegeführt. Aber: Der Retrofit des Kohlemeilers lohnt sich nicht, das Kraftwerk muss mittelfristig vom Netz und die Wartungsverträge für die Gasturbine laufen nach tausenden Betriebsstunden unwiderruflich aus. Das Interesse an dem angebotenen, zertifikatsbasierten Ökostrom-Tarif sinkt, weil nicht erklärt werden kann, woher der Ökostrom kommt. Es brechen neue Zeiten an – ohne Kohlemeiler, ohne Gasturbine, aber mit erneuerbaren Strom- und Wärmequellen und mit möglichst vielen Bürgern, die bereit sind, sich an der Gestaltung des neuen Anlagenparks zu beteiligen.
In Dessau denkt man pragmatisch. Das Geld muss fließen – aber eben nicht um jeden Preis. Die Management-Software der Stadtwerke nutzt die eingegebenen Parameter bislang zur betriebswirtschaftlichen Optimierung. Nun wird sie in den kommenden Jahren Schritt für Schritt mit Energiewende-Daten gefüttert werden. Welche Erneuerbare-Energien-Anlagen sind in der Region in Betrieb? Was kostet es, die Organisatoren des regionalen Strommarkts, diese Kapazitäten für sich und für die Region zu nutzen? Welche erneuerbaren Kapazitäten werden zusätzlich benötigt? Wie reduziert man Stromüberschüsse, die mit geringem Marktwert an der Strombörse verkauft werden müssten, indem die zu den regionalen Lastverläufen passenden Techniken errichtet werden? Welche Dimensionen erhält der geplante Wärmespeicher? Was leistet der neue Elektronen-Heizkessel, wenn er überschüssigen Windstrom für die Wärmeenergie-Umwandlung nutzt? Hinzu kommen folgende Überlegungen: Wie viel Geld spart die Region, wenn der alte Kohlemeiler nicht ertüchtigt wird, kein neues Gaskraftwerk gekauft werden muss, künftig keine fossilen Ressourcen mehr importiert werden müssen? Wie groß ist schließlich der Preisunterschied zwischen echtem, erneuerbarem Regionalstrom und dem Grundtarif und wie kann man ihn durch betriebswirtschaftliche Optimierung schmelzen lassen?
Um diese Fragen beantworten zu können, zur Bewertung der Chancen und Risiken eines Regionalisierungsprozesses, werden seit April zunächst das in der Region bestehende regenerative Anlagenportfolio oder der Kraftwerkspark erfasst. Ziel ist die Darstellung einer regionalen Abrufreihenfolge für bestehende, vor allem aber für neu zu errichtende erneuerbare Energien. Es soll aus kommunal-regionaler Sicht so sinnvoll und so günstig wie möglich grüner Strom erzeugt werden.
Darüber hinaus machen sich nun die regionalen Akteure an die neue kooperative Regionalstrategie. Die Stiftung Bauhaus Dessau, das Umweltbundesamt, die Landesenergieagentur, die Ferropolis GmbH, der Energietisch Dessau, die Wirtschaftsförderung, diverse Unternehmen und zahlreiche Fachleute der Hochschulen der Region bringen sich ein, um wichtige sozio-ökonomische Fragen zu beantworten: Welche regionalen Akteure liefern dezentrale Wärme für das Nah- und Fernwärmenetz, wenn die Großkraftwerke vom Netz gehen? Wer organisiert den regionalen Strommarkt, erleichtert den kleinen Energieakteuren den Zugang? Welche Erneuerbare werden künftig von den Stadtwerken betrieben, welche seriösen Angebote für eine finanzielle Beteiligung können die regionalen Geldinstitute regionalen Unternehmen und auch den Bürgern mit kleinem Geldbeutel anbieten, damit diese zu „Prosumenten“ werden?
Im Kern geht es der Energieavantgarde also um eine verantwortete regionale Energiewende, die zusätzlich zur Wärme auch den Strom für die Region in der Region wandelt und den Bürgern anbietet. Das heißt aber nicht autark. Denn eine solche Lösung käme die Regionen aus technischen Gründen teuer. Das bestehende Übertragungsnetz wird nicht verteufelt. Der Stromkunde soll nach wie vor andere Stromprodukte kaufen können. Ob aber mehr Leitungen benötigt werden, wenn Regionen in Deutschland und Europa nach und nach ihre Strompotenziale vorrangig für sich selbst heben, darf bezweifelt werden. Denn sind Regionen schließlich in der Lage, ihren Strom sicher zu managen, so sollten lediglich Ausgleichsenergie und Residuallasten über größere Distanzen zu bewegen sein.
Der Politik den Weg weisen
Es zeichnet sich in vielen Bereichen unseres Alltags ab: Die Bürger möchten jetzt auf wichtige politische Entscheidungen in ihrem unmittelbaren Umfeld – bis hin zu europäischen Fragen – Einfluss nehmen. Wenn 88 Prozent der Deutschen die Zulassung von Genmais ablehnen, sich die Bundesregierung in Brüssel jedoch der Stimme enthält, dann entsteht bei vielen Bürgern der Eindruck, es sei überfällig, den Repräsentanten bei Bedarf den Weg zu weisen. Über 70 Prozent der Deutschen wollen seit Jahrzehnten den Ausstieg aus der Atomenergie, die deutsche Politik reagierte aber erst 2011 auf die Fukushima-Katastrophe – und nennt das dann Energiewende.
Die Energiewende an sich macht in vielerlei Hinsicht Sinn. Aus soziologischer Sicht vor allem dadurch, dass sich möglichst viele Bürger an einem wichtigen Gesellschaftsprojekt in ihrem direkten Umfeld gedanklich und finanziell beteiligen können. Ansonsten entsteht häufig der Eindruck, der eigene konkrete Einfluss auf die Geschicke der Region sei marginal.
Wenn Energieavantgardisten die regionale Mission plausibel erklären können und dazu einladen, über das Ob und Wie der regionalen Energiewende mitzubestimmen, dann ist das auch ein Mittel gegen politische Apathie und Resignation. Wenn die klassischen kommunalen Akteure feststellen, welch gestalterisches Potenzial sie in ihrem Umfeld aktivieren können, dann entlastet es auch diese Akteure selbst, die vor dem Hintergrund immer komplexerer Zusammenhänge Entscheidungen fällen müssen. Der vielleicht größte Vorteil der hier skizzierten regionalen Strategie besteht in der Abkehr von allzu technokratischen, anonymen Prozessen. Letztere vernachlässigen die Meinung der Bürger und deren gestalterisches Potenzial, leiden an Informationsmangel aufgrund zu großer Distanz zu den Betroffenen und sind nicht in der Lage, einen nach wie vor von der Mehrheit der Bürger befürworteten Transformationsprozess gerecht zu gestalten. So wie das mittelständische Gewerbe das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ist, so können Kommunen und Regionen die verantwortete Energiewende vollziehen.
Dieser Fachbeitrag von Ralf Dunker, Referent der Stiftung 100 prozent erneuerbar, ist bereits in der gedruckten Mai-Ausgabe von ERNEUERBARE ENERGIEN erschienen. Lust auf ein kostenloses Probeabo?