Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch

Grenzen überwinden

Am 25. Dezember 2010 lief die Frist ab. Bis dann sollten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) die Richtlinien zum Erreichen der Ziele für erneuerbare Energien im Jahr 2020 in nationales Recht umgesetzt haben. Vier Länder schaffen es voraussichtlich nicht, ihre Nationalen Aktionspläne zu diesem Termin in Gesetzestexte umzumünzen. Und nach jüngster Einschätzung der EU werden fünf Kandidaten die vorgegebenen Energieziele zum Ende des Jahrzehnts nicht erreichen.
Trotzdem gibt sich der für Energie zuständige EU-Kommissar Günther Oettinger entspannt, ja sogar zuversichtlich. Denn in einer Prognose geht die Europäische Kommission davon aus, dass die Union insgesamt über ihr Ziel hinausschießt. Sie besagt, dass der Anteil der erneuerbaren Energien in der EU im Jahr 2020 bei 20,3 statt 20 Prozent liegt. „Diese Vorausschätzung zeigt, dass die Mitgliedstaaten das Thema erneuerbare Energien überaus ernst nehmen und es sich zur Aufgabe gemacht haben, die inländische Erzeugung voranzutreiben“, sagt Oettinger.

Schwarze Schafe

Dennoch gibt es schwarze Schafe in den Reihen der Mitgliedsländer. Und auch die jüngsten Entscheidungen in Sachen Energiepolitik in einigen Staaten lässt manchen Experten am Erreichen der Ziele zweifeln. So kritisiert Hans-Josef Fell, energiepolitischer Sprecher der Grünen in Deutschland, das aktuelle Energiekonzept der Regierung Merkel, dem der Bundestag Ende Oktober zustimmte. In dem Konzept präsentiert die Regierung den Energiemix für die Zukunft Deutschlands. Unter anderem sieht es vor, die Laufzeiten von Atomkraftwerken zu verlängern. „Das Energiekonzept konterkariert den Nationalen Aktionsplan Deutschlands und ist eine absolute Bremse“, sagt Fell. Unter anderem geht aus dem Aktionsplan hervor, dass erneuerbare Energien im Bereich Strom bis 2020 einen Anteil von 38,6 Prozent haben sollen. „Im Energiekonzept sind es nur noch 35 Prozent.“ Dennoch rechnet die Regierung nach eigenen Angaben damit, dass Deutschland seinen Aktionsplan erfolgreich umsetzt. Dieser sieht vor, dass erneuerbare Energien im Jahr 2020 in Deutschland einen Anteil von 18 Prozent des Bruttoendenergieverbrauchs ausmachen. Die Regierung geht sogar davon aus, dass Deutschland das Ziel mit einem erwarteten Anteil von 19,6 Prozent übertreffen kann.
In anderen EU-Staaten sehe es weniger gut aus. „Die meisten EU-Länder werden mit ihrer jetzigen Wachstumsgeschwindigkeit ihr 2020-Ziel nicht erreichen“, befürchtet Fell. „Das Hauptproblem sind die osteuropäischen Länder. Positive Prozesse werden hier durch alte Machtstrukturen wieder zum Erliegen gebracht. Wie zum Beispiel in Tschechien, wo vor Kurzem das Erneuerbare-Energien-Gesetz fast völlig gestrichen wurde. Die alten Lobbys, Kohle und Atom, sind hier besonders stark. Ob das Gesamtziel, also ein Anteil von 20 Prozent an erneuerbaren Energien europaweit, erreicht wird, kann ich nicht sagen.“ Aber er ist sich sicher, dass einzelne Länder ihr Ziel verfehlen werden.

Erste Mahnungen

Auf europäischer Ebene sieht man es ähnlich. Wie die EU-Kommission mitteilte, haben es vier Mitgliedstaaten nicht geschafft, ihre Aktionspläne einzureichen oder in nationales Gesetz umzuwandeln. „Dabei handelt es sich um Polen, Ungarn, Estland und Belgien. In der EU-Direktive stehen Zahlen, die erfüllt werden müssen. Sünder müssen sich vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg verantworten, aber erstmal gibt es Mahnungen, und die Regierungen müssen sich rechtfertigen, warum sie die Vorgaben nicht einhalten“, sagt Heinz Ossenbrink, Leiter der Abteilung Erneuerbare Energien der EU-Kommission. Im Fall Ungarn sei der Grund für die Verzögerung bei der Ausarbeitung eines Nationalen Aktionsplans offensichtlich. Dort hat es einen Regierungswechsel gegeben, so dass es aufgrund einer Neustrukturierung zu Verzögerungen gekommen sei. Der Fall Belgien sei auch klar, meint Fawaz Al Bitar vom belgischen Verband für erneuerbare Energien Edora. „Die regionalen Regierungen von Flandern und Wallonien konnten sich bisher noch nicht darauf einigen, wie der Aktionsplan für Belgien aussehen soll. Und ich weiß auch nicht, wann es zu einer Einigung kommen wird.“ Derzeit seien die Fronten ziemlich verhärtet. Das kann Susanne Nies, Leiterin der Abteilung Unit Energy Policy amp; Generation des Verbandes Eurelectric, bestätigen. „Belgien ist sehr problematisch. Dort kursieren momentan zwei Entwürfe, einer für Wallonien und einer für Flandern. Das ist ein internes Problem, durch den Streit leidet auch die Energiepolitik des Landes.“ Mit dem Resultat, dass das Land bisher noch keinen Aktionsplan einreichen konnte. Polen dagegen habe seinen Aktionsplan vor Kurzem eingereicht. Die Frage ist, ob es der Regierung des Landes jetzt gelingt, diesen zügig in nationales Recht umzusetzen.

Notfalls wird Energie importiert

Nachdem die meisten Aktionspläne eingereicht sind, muss sich zeigen, ob sie das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben stehen. In ihrer Prognose geht die EU-Kommission davon aus, dass zehn von 27 EU-Mitgliedstaaten ihre nationalen Ziele für erneuerbare Energien bis 2020 voraussichtlich übererfüllen und weitere zwölf ihre Ziele auf den Punkt genau erreichen. Lediglich fünf Mitgliedstaaten würden nach dem derzeitigen Stand ihre Ziele allein mit Hilfe von inländischen Quellen nicht erreichen. Dabei handelt es sich um Belgien, Dänemark, Italien, Luxemburg und Malta. Die Kommission erwartet, dass Italien 2020 das größte Defizit vorweist. Falls die fünf Mitgliedstaaten die Ziele tatsächlich verfehlen, soll ein Kooperationsmechanismus zum Tragen kommen. Dann wären sie angehalten, erneuerbare Energien von anderen EU-Ländern oder Drittstaaten zu importieren. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass die vier EU-Länder Frankreich, Griechenland, Italien und Spanien schon vor geraumer Zeit ankündigten, dass sie womöglich diesen Kooperationsmechanismus nutzen möchten. Dies soll im Rahmen des Mediterranean Solar Plans oder gemeinsam mit westlichen Balkanstaaten umgesetzt werden. Bei dem Mediterranean Solar Plan handelt es sich um eine zwei Jahre alte Initiative der EU mit dem Ziel, in Mittelmeerregionen, die nicht zur EU gehören, erneuerbare Energieprojekte mit einer Gesamtleistung von 20 Gigawatt zu realisieren. Außerdem sollen diese Kraftwerke mit den Stromnetzen der südlichen EU-Länder verbunden werden. Hier habe vor allem Italien auf sich aufmerksam gemacht, das bereits Kraftwerke und Netzverbindungen mit den Ländern Schweiz, Albanien, Montenegro und Tunesien ins Gespräch brachte. Die EU-Kommission gibt sich zuversichtlich, dass das 2020-Ziel für die gesamte EU erreicht wird.

Strom die Nummer Eins

Wie die einzelnen Länder ihre Ziele erreichen, bleibt ihnen überlassen. Laut EU-Vorgabe sollen die Anteile der erneuerbaren Energien in den Bereichen Wärme beziehungsweise Kälte, Strom und Verkehr ausgebaut werden. „Dabei fällt auf, dass die meisten EU-Länder den größten Zuwachs im Bereich Strom erreichen wollen“, sag Nadia Weekes von ENDS Europe (environmental news and information service). „Entsprechend sind in den meisten Ländern die Pläne zur Stromerzeugung auch am stärksten ausgearbeitet.“ An zweiter Stelle folgt der Wärme- und Kältebereich, während die Pläne für den Bereich Verkehr am wenigsten ausgefeilt sind. „Es gibt kaum klare Ansätze, die zu einer verstärkten Nutzung von Biosprit oder Elektroautos führen würden“, sagt Weekes.
Aus den Inhalten der Aktionspläne wird deutlich, dass die in den vereinzelten Ländern genutzten Technologien nicht nur von den natürlichen Ressourcen und geographischen Eigenschaften eines Landes abhängen. Weekes: „Ebenso wichtig sind der politische Wille und die strategische Ausrichtung in den Ländern.“ So sei es aus geographischer Sicht nicht verwunderlich, dass Finnland mit seinen Wäldern verstärkt auf Biomasse setzt, um seine 2020-Ziele zu erreichen. Kritiker werfen dem Land dabei jedoch eine sträfliche Vernachlässigung von Solarstrom vor. Nicht so selbstverständlich dagegen sei die Tatsache, dass Deutschland mit den meisten installierten Kapazitäten der größte Photovoltaikmarkt der Welt ist. In vielen Ländern der EU ist die Sonneneinstrahlung um einiges besser. Aber es existierte der politische Wille, der das Erneuerbare-Energien-Gesetz mit seiner lukrativen Förderung von Solarstrom ermöglichte. Das gleiche gilt für Windenergie.
Ein gutes Beispiel für den strategischen Aspekt beim Hervortreten einer Technologie liefert der französische Photovoltaikmarkt. Auch dort wird Solarstrom ähnlich wie in Deutschland subventioniert. Aber die höchste Förderung erhält in Frankreich die gebäudeintegrierte Photovoltaik (BIPV), obwohl einige Kritiker sie als zu teuer erachten. Gaeten Masson vom europäischen Photovoltaikverband EPIA geht davon aus, dass es sich hierbei um strategisches Kalkül der französischen Regierung handelt. „So konzentriert sich die französische Industrie auf die Entwicklung von BIPV und nimmt eine führende Stellung in diesem Bereich auf dem Weltmarkt ein“, sagt der Experte. „Das verschafft der heimischen Industrie Vorteile in einer internationalen Branche.“ Eine Förderung für BIPV gebe es derzeit nur noch in Italien. Besonders weiterentwickelt hat sich die Nischentechnologie in dem Land jedoch nicht, so dass Frankreichs Führungsrolle in diesem Bereich unangefochten ist.
Eine lukrative Förderung einer Technologie bedeutet für diese aber nicht zwingend, dass sich ein entsprechender Markt entwickelt. Das hat Griechenland bewiesen: „Bei uns gibt es bereits seit Anfang 2006 ein äußerst attraktives Fördergesetz für Solarstrom“, berichtet Stelios Psomas, politischer Berater des griechischen Solarverbandes Helapco. „Aber bis Ende 2008 waren gerade mal Anlagen mit einer Leistung von 25 Megawatt installiert.“
Zum Vergleich: Deutschland installierte allein 2008 eine Solarleistung von gut 1.800 Megawatt (MW). Griechenlands Photovoltaikbremse lag in einem äußerst komplizierten und somit abschreckenden Antragsverfahren für den Bau einer Photovoltaikanlage gepaart mit ausufernder Bürokratie. „Die zuständige Behörde war unterbesetzt und die Beamten kannten sich mit der Materie nicht aus. So kam es, dass manche Anträge bis zu zwei Jahren in der Behörde festsaßen. Natürlich investierte unter solchen Bedingungen niemand in Photovoltaik“, fasst der Helapco-Sprecher zusammen. Mittlerweile habe sich die Situation deutlich verbessert. „Die Antragsverfahren wurden vereinfacht und die Bürokratie abgebaut, so dass Griechenland ein attraktiver Photovoltaikmarkt ist, in dem alleine dieses Jahr Anlagen mit einer Leistung von 150 MW installiert werden.“

In Stromnetze investieren

Aber nicht nur Antragsverfahren und Bürokratie zeigen erneuerbaren Energien ihre Grenzen auf. In ganz Europa entstehen neue Projekte. Zu den wichtigsten Vorhaben zählen Offshore-Windfarmen in der Nordsee und Konzentrator-Solarkraftwerke in Spanien. „Das größte Hindernis für die Großprojekte der erneuerbaren Energien ist das europäische Stromnetz“, sagt Nadia Wee­kes. „Das bestehende Netz wurde entworfen für den Transport von vorhersehbaren Mengen an Strom. Außerdem war es nicht dafür gedacht, die verschiedensten Gebiete Europas miteinander zu verbinden. Aber genau das muss jetzt geschehen.“ Neue Verbindungen müssten geschaffen werden, damit der Strom der Erneuerbaren durch ganz Europa fließen kann. Außerdem muss das Netz in der Lage sein, mit den Produktionsschwankungen von Wind- und Sonnenkraftwerken zurechtzukommen. „Den europäischen Netzbetreibern ist dieses Problem durchaus bewusst“, weiß Weekes. Der Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E, European Network of Transmission System Operators for Electricity) entwarf daher einen vorläufigen Entwicklungsplan, der auf zehn Jahre angelegt ist. Demnach müssen die Netzbetreiber 40.000 Kilometer an Übertragungsleitungen neu legen oder renovieren. Das entspricht etwa 14 Prozent des europäischen Übertragungsnetzes, wobei sich die Kosten auf 27 bis 33 Milliarden Euro belaufen.
Notwendige nationale und lokale Investitionen sind dabei nicht mit eingerechnet. In ihrem vor Kurzem vorgelegten Strategieplan bekennt sich die EU ebenfalls zu einer Erneuerung des Stromnetzes. Demnach will die EU-Kommission Investitionen in Höhe von 200 Milliarden Euro zur Modernisierung und zum Ausbau von Strom- und Gasnetzen in der EU bis 2020 auf den Weg bringen.

Öffentliche Akzeptanz schaffen

„Das zeigt direkt die nächste Hürde auf. Die liegt bei der Finanzierung der 2020-Ziele“, sagt Weekes. Die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise seien auch heute nicht zu unterschätzen. Außerdem seien Investitionen in erneuerbare Energien immer noch riskant. Daher sieht Weekes in den Fördersystemen das beste Mittel, um Investoren in den Bereich der Erneuerbaren zu locken. Deutschland zeigt, wie ein erfolgreiches Fördersystem funktioniert, lobt Aandrzej Dejneka, Direktor der polnischen Handelskammer für erneuerbare Energie. „Ein stabiles und berechenbares Fördersystem wird Investoren anlocken, da die Auslagen, die sie aufbringen müssen, dadurch geringer ausfallen.“ Ohne ein solches Fördersystem wird Polen seiner Ansicht nach die 2020-Ziele verfehlen.
Und schließlich stoßen erneuerbare Energien oft an die Grenze der öffentlichen Akzeptanz, vor allem Großprojekte. Das zeigt sich verstärkt in Griechenland, wo es der Windbranche schwer fällt, Fuß zu fassen. „Das Potenzial für Wind in Griechenland ist enorm“, sagt Dirk Reinhardt, Rechtsanwalt der Kanzlei Kuhbier in Athen. „Aber die Ablehnung in der Bevölkerung ist sehr stark. Das liegt daran, dass die Industrie in Griechenland keine Aufklärungs- und Lobbyarbeit leistete und die Öffentlichkeit mit ihren Windparks vor vollendete Tatsachen stellte. Jetzt werden Projekten, wann immer es geht, Steine in den Weg gelegt, so dass in dem Land Projekte mit mehreren Gigawatt festsitzen.“ Für sie hätte erst eine öffentliche Akzeptanz geschaffen werden müssen.
Der Europäische Dachverband für erneuerbare Energien teilte erst neulich mit, dass erneuerbare Energien in der EU schneller wachsen, als noch vor zehn Jahren angenommen. Trotzdem ist es noch ein langer Weg, den alle Beteiligten zurücklegen müssen, wenn die Ziele für Erneuerbare in Europa erreicht werden sollen. Es müssen Grenzen überwunden werden. Und das gilt für alle Bereiche der Gesellschaft. Von der lokalen Ebene, wo immer mehr für Akzeptanz der Projekte geworben werden muss, über die Investoren und Banken bis hin zu den nationalen Politikern. (Markus Grunwald, Rebecca Raspe)