Mit Hilfe einer groß angelegten Szenariendarstellung hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) das Ziel, grundlegende Erkenntnisgewinne für die Energiewende in Deutschland abzuleiten. Hierzu betrachtet ein breites wissenschaftliches Konsortium an Instituten (u.a. Fraunhofer ISI, Consentec, IFEU, TU Berlin und Energy & Ressources) einzelne Pfade zur Dekarbonisierung des Energiesystems und bewertet deren techno-ökonomische Wirkung.
Wie bereits in einer vorherigen Veröffentlichung des BEE zu den Langfristszenarien aus dem Sommer 2021 beschrieben sowie in diversen Fachausschüssen des BMWK auf Grundlage der Langfristszenarien mitgeteilt, hat der BEE eindringliche fachliche Bedenken in Bezug auf die Abbildung der Erneuerbaren Energien innerhalb der Langfristszenarien. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die gefundenen Abweichungen zentrale Auswirkungen auf mehrere Ergebnisse der Langfristszenarien haben.
Diese fachlichen Bedenken wurden dem BMWK und den Autoren der Langfristszenarien auch direkt in einem Zeitraum von fast zwei Jahren in mehreren Workshops bilateral vorgestellt. Dabei wurden zwar diverse vorgetragene fehlerhafte Abbildungen der Erneuerbaren Energien in den Langfristszenarien anerkannt (z.B. Wahl der Inputparameter Windenergie Onshore, Abbildung Wasserkraft, usw.), doch die begründete Forderung der Erneuerbaren Verbände nach einer vollständigen Neuberechnung der Langfristszenarien aufgrund der Vielzahl von gefundenen Punkten wurde nicht umgesetzt.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Langfristszenarien (in Teilen oder in Gänze) in einer Vielzahl weiterer Studien des BMWK als Grundlage verwendet werden (u.a. der Systementwicklungsstrategie, der Plattform Klimaneutrales Stromsystem, dem Biddingzone Review, der Verteilnetze der Zukunft, usw.) und die Ergebnisse somit auch politische Entscheidungen massiv beeinflussen.
Da dieser Umstand nicht haltbar ist, haben sich der BEE und seine Spartenverbände entschlossen, ein Hintergrundpapier zu den Langfristszenarien zu erstellen, um einen Raum für eine breite öffentlich wissenschaftliche Diskussion über die fehlerhafte Abbildung der erneuerbaren Energien als auch deren potenziellen Einfluss auf die Ergebnisse der Langfristszenarien zu ermöglichen.
Eklatante Abweichungen von der Realität
Die gewählten Energieeffizienzen und Effizienzgewinne der Langfristszenarien sind auf Basis der Analyse der Vergangenheitswerte der letzten Jahre sehr ambitioniert. Dennoch sind diese Energieeffizienzen und Effizienzgewinne aus Klimaschutz- und technischen Gründen zwingend notwendig und werden daher auch in anderen Klimastudien unterstellt. Sie zeigen somit den Zielkorridor auf.
Der Ausbaurahmen der erneuerbaren Energien ist gegenüber den letzten Langfristszenarien aus dem Jahr 2021 deutlich angestiegen. Während im Jahr 2021 der Ausbaurahmen im TN Strom Szenario im Jahr 2050 bei nur 495 GW lag, wurde dies in den neuen Langfristszenarien im Jahr 2045 auf knapp 667 GW gesteigert (+34,5 %). Die Zuwächse kommen vor allem aus den Bereichen Photovoltaik (+139 GW) und Wind Offshore (+25 GW).
Der Gesamtausbau der erneuerbaren Energien in den Langfristszenarien und dessen Entwicklung zu vorangegangenen Studien wird seitens der Erneuerbaren Branche als positiv und notwendig bewertet, auch wenn dieser noch unterhalb dem Ausbaurahmen von 720 GW liegt, welcher in der Strommarktdesignstudie des Bundesverband Erneuerbare Energie 2021 zu Grunde gelegt wurde.
Auch in den neuen Langfristszenarien Ende 2022 ist ein schleichender „phase out“ der Bioenergie aus der Stromerzeugung unterstellt aufgrund zu geringer Biomassepotenziale. Die Annahmen zum nachhaltigen Biomassepotenzial in den Langfristszenarien sind deutlich zu gering bemessen, berücksichtigen zukünftige Entwicklungen in den Landnutzungssektoren nicht und betrachten bestimmte Biomassesortimente nicht, die für eine nachhaltige Nutzung zur Verfügung stehen. Auch steht die Nutzung von Biomasse im Umwandlungssektor nicht in Konkurrenz zur Bereitstellung von klimaneutralem CO2 für die Industrie oder zur Erzeugung von Negativemissionen zur Kompensation nicht vermeidbarer Restemissionen.
Die Inputparameter bei der Windenergie Onshore, speziell der maximalen Nabenhöhe sowie der minimalen Flächenleistung (Schwachwindanlagen), sind grundsätzlich falsch gewählt. Es gibt seit 2012 Neuanlagen, die eine bessere Anlagenkonfiguration aufweisen, als es die Langfristszenarien bis einschließlich 2040 maximal vorsehen.
In den letzten zwei Jahren (2021 bis 2022) wiesen ca. 75 % der Neuanlagen eine bessere Anlagenkonfiguration aus als es die Langfristszenarien in ihren Szenarien bis einschließlich 2040 unterstellten. Die Tendenz des prozentualen Anteils der Neuanlagen mit besserer Anlagenkonfiguration ist in den kommenden Jahren weiter steigend.
Zudem sind auch die Annahmen zu Abschattungseffekten in Windparks in den Langfristszenarien deutlich zu groß angesetzt und es werden technische Degradationen der Generatorleistungen unterstellt, welche um das Zwanzigfache höher liegen als in der Realität vorkommen.
Abweichungen Offshore und PV
Im Wind Offshore Bereich wird zwar das im Wind Onshore fehlende erwartete veränderbare relative Einspeisungsverhalten über die Szenariojahre hinweg abgebildet, doch ist die Heuristik der Einspeisungsverläufe zum Teil gegen die Realität abgebildet. So weisen im Szenariojahr 2025 über 600 Stunden Auslastungen oberhalb von 95 % der Nennleistung auf, obwohl solch hohe Spitzenauslastungen in den letzten 8 Jahren nicht in einer einzigen Stunde vorgekommen sind. In den folgenden Szenariojahren steigen die Spitzenauslastungen im Offshore Bereich sogar auf über 800 Stunden und das trotz eines massiven Ausbaus der Windenergie Offshore und einem damit einhergehend höheren Abschattungsgrad aufgrund der Windparkdichte im Offshorebereich. Die höchste Einzelheuristik im Wind Offshore Bereich mit über 350 Stunden weist der höchste Prozentrang von 100 % (Auslastungen von 99 % bis 100 %) aus, was rein technisch nicht möglich ist, da aufgrund der technischen Verfügbarkeit (laut den Langfristszenarien im Wind Onshore Bereich 98 %) eine solche Auslastung nicht erreicht werden kann.
Aufgrund der schlechteren Erreichbarkeit im Offshorebereich liegt der Wert der technischen Verfügbarkeit in der Realität noch deutlich niedriger als im Onshore Bereich.
Im Bereich der Photovoltaik kommt es in den Langfristszenarien zu einer dynamischen Spitzenkappung, was allerdings nichts anderes als eine pauschale Abregelung bei einer Auslastung von ca. 50 % der Nennleistung (Deutschlandebene) ist. Dies führt zu mehreren Abweichungen. Neben der rechtlichen Thematik, die eine solche pauschale Abregelung auf nationaler wie auch EU-Ebene verbietet, entsteht damit auch eine konstante Einspeisung der Photovoltaik über mehrere Stunden am Tag. Die damit realisierte konstante Einspeisung, welche auch in die Simulation eingeht, stellt eine implizite Flexibilität dar, zumal es nicht erklärbar ist, wie eine solche konstante Einspeisung bei der Photovoltaikeinspeisung in Deutschland möglich wäre.
Zudem kommt es zeitgleich in den Zeitfenstern der Abregelung gehäuft, im Szenariojahr 2025 sogar in über 80 % der Fälle, zu Nettoimporten Deutschlands. Das bedeutet, dass die Langfristszenarien eine der günstigsten und vor allem dezentral am Verbraucher erzeugten Strommengen aus erneuerbare Energien abschalten um zeitgleich teuren, unter Umständen nicht grüne, Strommengen aus Nachbarländern zu importieren.
Wasserkraft
Die Wasserkrafteinspeisung, welche auch eine dargebotsabhängige erneuerbare Energieform darstellt, wurde in den Langfristszenarien ohne Inputdaten aus Pegel- oder Wasserabflüssen simuliert, was zu einer gänzlich falschen Abbildung dieser Technologie führte. Dabei weist die Wasserkraft in 75 % bis 90 % der Zeitfenster, je nach betrachtetem Szenariojahr, keine Einspeisungsveränderung zur Vorstunde auf, was der Wasserkrafteinspeisung ein weitgehend konstantes Verhalten abbildet. Zusätzlich kommt es in den restlichen 10 % bis 25 % der Zeitfenster zu massiven Leistungssprüngen von bis zu 28 % der Nennleistung, welche mit der Wasserkraft in Deutschland, die vor allem auf Laufwasserkraftwerke beruht, technisch nicht möglich ist. Abschließend kann gezeigt werden, dass die Wasserkrafteinspeisung, trotz gleichen Wetterjahres und gleichen Anlagenparks eine saisonale Verschiebung von über 800 GWh zwischen den Szenariojahren 2025 und 2045 aufweist. Selbst unter Ausnutzung aller Speicherkapazitäten von Wasserkraftanlagen in Deutschland wäre eine solche saisonale Verschiebung nicht möglich. Das konstante Einspeisungsverhalten der Wasserkraft über weite Teile, die hohen Leistungssprünge zwischen einzelnen Stunden sowie die saisonale Verschiebung der Wasserkrafteinspeisung stellen implizite Flexibilitäten in den Langfristszenarien dar.
Die Abweichungsgröße der erneuerbaren Einspeisungsleistungen in den Langfristszenarien im deutlichen GW-Bereich je erneuerbarer Technologie. Zeitweise lagen diese Abweichungen / Fehler wie im Wind Onshore und im Photovoltaikbereich auch im zweistelligen GW-Bereich. Die ermittelte Abweichung erstreckten sich über mehr als 100 Stunden (Photovoltaik und Wind Offshore) bis hin zu mehreren tausend Stunden (Wind Onshore und Wasserkraft). Der BEE vermutet bei den Langfristszenarien in Summe über die einzelnen erneuerbaren Technologien eine Abweichungshöhe von ca. 80 bis 90 TWh. (nw)