Politische Positionen und gesetzliche Ziele basieren in der Regel auf modellhaften Überlegungen über die Zukunft. Dazu ein Beispiel: Eben erst ist der Entwurf des neuen Erneuerbare-Energien-Gesetzes bekannt geworden. Und darin gibt das Bundeswirtschaftsministerium vor, wohin die Reise bei der Energiewende bis 2030 gehen soll: 580 Terawattstunden Bruttrostromverbrauch, 100 Gigawatt PV, etc. – Zahlen, die den Markt der Zukunft regeln. Zahlen, die aber auch auf Szenarien beruhen, die einen „bestmöglichen“ Mix aus dem technologisch machbaren, ökologisch vertretbaren und allseits finanzierbaren beschreiben sollen.
Die Energiemodelle dienen dabei als Hilfestellung für Politik- und Entscheidungsträger*innen, um zukünftige Transformationspfade zu berechnen. Sie sind beliebte Instrumente zur Unterstützung und Untermauerung von Entscheidungen und finden dementsprechend eine größer werdende Verwendung in Politik und Wirtschaft. Die Berechnungen dienen der Empfehlung zukünftiger Pfade der Energieversorgung mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Dabei klafft jedoch eine entscheidende Lücke, die mitunter zu falschen politischen Schlussfolgerungen führt. Denn die Einbindung der sozialen Dimension fehlt meist.
Entscheidungen beruhen auf Modellen, die nicht alle Dimensionen einbeziehen
Historisch betrachtet lässt sich dieser Mangel gut erklären. Im konventionellen Energiesystem fungierte die Gesellschaft meist als passiver Verbraucher. Für die Modellierung war das daher ein recht unwichtiger Faktor. Klassische Fragestellungen, die in Modellen untersucht werden, sind hingegen zum Beispiel häufig der nötige Zubau an Erneuerbaren Energien, die Nachfrageentwicklungen in verschiedenen Sektoren oder auch die zu erreichenden Reduktionen an CO2-Emissionen. Bei genauerer Betrachtung wird klar, dass sich vor allem die Punkte des energiepolitischen Zieldreiecks – Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit – in der Energiemodellierung wiederfinden. Diese werden durch verschiedenste Parameter repräsentiert. Die Umweltverträglichkeit wird beispielsweise mit der Einhaltung von CO2-Budgets in Szenarien dargestellt. Die Versorgungssicherheit wird über die Ausfallminuten des Stromnetzes abgebildet und die Wirtschaftlichkeit kann über Kostenoptimierungen in die Modellierung einfließen.
Die Energiewende rückt näher an die Bevölkerung ran – das gilt es mitzurechnen
Die Bevölkerung betreffende Faktoren werden hingegen nicht oder nur sehr selten in Modellen erforscht. Beispiele dafür sind etwa Kosten einer mangelnden Akzeptanz oder Vorteile bei der Flächenakquise, wenn ortsansässige Akteure aktiv werden. Ein drängendes Beispiel, zu welchen Fehlentwicklungen diese Missachtung des Faktors Mensch führen kann, zeigt sich in einer zögerlichen und teilweise fehlgesteuerten Akzeptanzpolitik, die derzeit die Energiewende bremst. Folgerichtig müssen diese sozialen Fragen mehr und besser analysiert werden, die Wirkungen modelliert und die Ergebnisse in Entscheidungsprozessen stärker betrachtet werden. Sie sollten deshalb auch zentral in den Modellen berücksichtigt werden, um die Realitäten besser abzubilden. Nur so können getroffene politische Entscheidungen robust die Transformation des Energiesystems voranbringen.
Ansätze zur Einbindung der Rolle der Gesellschaft gibt es
Dieses gilt umso mehr als das in einem dezentralen, erneuerbaren Energiesystem die Energiewende näher an die Bevölkerung heranrückt. Dadurch wird die Gesellschaft unmittelbar ein Teil des Transformationsprozesses und die soziale Dimension der Energiewende wird so zum entscheidenden Faktor des Machbaren und zur Determinante der Energieszenarien. Es kommen daher neue Fragen auf, die für den Erfolg der Energiewende entscheidend sind: Wer lässt sich wie aktivieren? Welches Szenario hat eine höhere Chance auf Akzeptanz? Wie erfährt der Wandel Unterstützung? Wie sieht eine sozial gerechte Transformation aus?
Während die Betrachtung genau solcher Fragestellungen bislang eher eine Seltenheit ist, gibt es in der Forschung schon einige Ansätze. Es werden soziale Treiber und Hemmnisse der Energiewende quantifiziert, sodass diese in Modellen als Inputparameter und für Narrative der Szenarien verwendet werden können. Die Facetten der Akzeptanz werden beispielsweise durch verschiedene Szenarien abgebildet, etwa durch unterschiedliche Nachfrageentwicklungen oder Ausbaupotentiale von Erneuerbaren Energien Anlagen. Oder es werden Bremseffekte für den Windausbau bei Akzeptanzproblemen eingerechnet, und gleichzeitig eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung durch vermehrte PV-Aufdachanlagen abgebildet. Darüber hinaus werden Arbeitsplatzeffekte modelliert und deren Auswirkungen analysiert. Weitere Diskussionspunkte sind soziale Teilhabe, Verhalten der Bevölkerung inkl. Suffizienz sowie Heterogenität von Akteuren und Gerechtigkeit. Ein wesentlicher Faktor ist auch die Berechnung der lokalen Wertschöpfung als Parameter für eine höhere Unterstützung vor Ort.
Energiemodellierung meets Gesellschaft – Den Herausforderungen müssen wir uns stellen
Es gibt also gute Ansätze, auch wenn die Umsetzung von sozialwissenschaftlichen, qualitativen Erkenntnissen in die quantitative Modellierungsarbeit Herausforderungen bürgt. Energiemodellierer*innen arbeiten heute meist noch vor dem Hintergrund technisch-ökonomischer Fragestellungen. Und die Einbindung der sozialen Dimension in die Modelle ist für viele noch neu. Daher bedarf es einer besseren und verstärkten Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen, um die oben genannten Fragen miteinzubeziehen. Es eröffnet die Möglichkeit bei Energiemodellen auch gesellschaftliche Faktoren abzubilden und öffnet Türen für die Bearbeitung neuer Fragestellungen und eine inklusivere und ganzheitlichere Diskussion der Ergebnisse. Dies bedeutet nicht, dass derzeitige Modellierungsansätze obsolet sind. Vielmehr fördern interdisziplinäre Forschungsergebnisse eine neue Vielfalt, die mithilft, die Energiesystemwende voran zu bringen und zu gestalten. Für Entscheidungsträger*innen ist dies bedeutsam für die Ausgestaltung von politischen Handlungen.
Kritischer Blick der Politik auf die wissenschaftlichen Empfehlungen
Insgesamt sollten Energiemodelle dringend danach hinterfragt werden, ob sie den Faktor Mensch ausreichend berücksichtigen. Tun sie es nicht, sollte dies auch explizit sichtbar gemacht werden und in den Schlussfolgerungen diskutiert werden. Die Energieforschung muss hier ihre Hausaufgaben machen. Aber auch die Politik muss Ergebnisse nach ihrer Werthaftigkeit abwägen. Sie kann zudem – etwa bei Forschungsvorhaben – stärker einfordern, die Einbindung der sozialen Dimension in die Ausgestaltung von Modellen, in die Definition von Szenarien sowie in Diskussionen rund um die Modellierungsergebnisse zu berücksichtigen und dies entsprechend fördern. Und sie sollte neben der Übersetzung von sozialwissenschaftlichen (und psychologischen) Erkenntnissen in quantitative Daten auch den Austausch zwischen verschiedenen Disziplinen anregen.
Die Ergebnisse der Modellierung sind jedenfalls robuster, wenn sie den Faktor Mensch berücksichtigen. Und so wird eine szenarienbasierte Energiepolitik, die die kommenden Jahrzehnte ins Visier nimmt, realistischer und nachhaltiger.
Autorin: Alexandra Krumm ist Promovendin im RLS-Graduiertenkolleg und befasst sich in ihrer Promotion mit der sozialen Dimension der Energiesystemwende. Im Fokus steht die Untersuchung der Stärkung der sozialen Teilhabe im Transformationsprozess.
Weitere Texte der Reiner-Lemoine-Stiftung zur Energiesystemwende finden Sie hier in unserer Kolumne.
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