Unser deutscher Kraftwerkspark steht vor einer elementaren Grundsanierung. Das Ende der Atomkraft im Jahr 2022 und parallel der Ausbau der Erneuerbaren auf 40 Prozent des Strombedarfs gehören zu den gesetzten Größen. Die Frage ist nur: Wie kommen wir da hin mit unserem Kraftwerkspark und unserem Marktdesign, das einst für eine zentral Versorgung mit fossilen, regelbaren entwickelt wurde. Die Antwort ist einfach: So kommen wir da gar nicht hin. Welche Kraftwerkstypen sollten die erneuerbaren Energien statt dessen flankieren? Das Beratungsunternehmen Enervis Energy Advisors hat im Auftrag der Trianel Kraftwerksgesellschaften untersucht, wie der bestehende Kraftwerkspark weiterentwickelt werden muss, damit Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit möglichst ausgewogen hergestellt und die Ziele der Energiewende erreicht werden. Die Studie, die heute in Berlin vorgestellt wurde, hat eine Lehren für das künftige Marktdesign hervorgebracht:
1. Neue Laststrukturen
Mit den fossilen Energien war die Stromproduktion bisher bequem planbar. Doch je höher der Anteil Erneuerbarer wird, desto stärker werden die Lastschwankungen im Netz in immer kürzeren Zeitabständen. Die Residuallasten, also die Differenz zwischen der von Stromkunden nachgefragten Leistung und der erbrachten Leistung der nicht steuerbaren erneuerbaren Kraftwerke, nehmen zu: Ab 2025 treten Residuallasten mit ansteigender Tendenz auf. Zeitweise kann dann sogar der gesamte Strombedarf Deutschlands bilanziell durch die erneuerbaren Energien gedeckt werden. Die residuale Spitzenlast reduziert sich dabei kaum. Das bedeutet, dass der maximale Bedarf an gesicherter Kraftwerkskapazität weitgehend konstant bleibt, die Auslastung des konventionellen Kraftwerksparks insgesamt aber kontinuierlich zurückgeht. Bekannte Laststrukturen werden durch zunehmende Einspeisung der Erneuerbaren aufgelöst:
•Solarenergie greift in Tagesstrukturen ein (Kappen der Mittagsspitze), während Wind Tages- und Wochenstrukturen verändert. Gleichzeitig wird die (residuale) Laststruktur zunehmend von den Saisonalitäten dieser erneuerbaren Technologien geprägt.
•Es entstehen stärkere Lastschwankungen (Amplituden) in immer kürzeren Zeitabständen.
•Es gibt vermehrt sehr niedrige bzw. negative residuale Lasten (EE-Überschüsse).
•Diese veränderten Laststrukturen stellen neue technische und wirtschaftliche Anforderungen an konventionelle Kraftwerke, die die entstehenden Schwankungen ausgleichen müssen.
2. Weniger Grundlast
Bereits in drei Jahren werden 30 Prozent weniger Grundlastkraftwerke benötigt, besagt die Studie von Enervis. Grundlast wird vor allem von Kernenergie und Braunkohlekraftwerke zur Verfügung gestellt, die schlecht regelbar sind. Die Kraftwerke verursachen hohe Investitions- und Fixkosten bei niedrigen Produktionskosten. Sie eignen sich daher für einen durchgehenden Betrieb. Nur: Der wird durch die Zunahme der Erneuerbaren immer weniger benötigt, wie die prognostizierte Entwicklung der Residuallasten ergibt. Enervis hat einen idealen Kraftwerkspark untersucht, der nicht die Basis des bestehenden Kraftwerksparks berücksichtigen muss, und einen realen Park. Ab Ende der 2020er Jahre würde der Grundlastanteil im idealen Kraftwerkspark bei unter zehn Prozent liegen. Dann kommen nur noch hocheffiziente Kohlekraftwerke zum Einsatz. Im realen Bestandspark liegt der Grundlastanteil hingegen bei rund 25 Prozent der Gesamtkapazitäten.
Konventionelle Grundlastkraftwerke mit hoher Auslastung werden also immer weniger benötigt; dies wird durch die Strukturveränderung der Residuallast ausgelöst. Der Bedarf an Grundlast liegt im idealen Kraftwerkspark daher bereits anfänglich deutlich unter dem Bestand im Referenzszenario ( Grafik unten, Punkt 1). •Im idealen Kraftwerkspark setzt sich die Abnahme des Grundlastsegments kontinuierlich fort (2 ), während im Referenzszenario aufgrund des hohen Bestands an Grundlastkapazitäten diese Einflüsse erst deutlich später zum Tragen kommen. Der Bestand an Grundlast liegt am Ende des Betrachtungszeitraums deutlich höher als im idealen Kraftwerkspark ( 3).
3. Mehr Gaskraftwerke werden gebraucht
Der ideale Kraftwerkspark benötigt rund 60 Prozent mehr Gaskraftwerke. Mittellast-Kraftwerke sind vor allem Gas- und -Dampfturbinen (GuD)-Kraftwerke, die besonders für den tageweisen oder wochenweisen Einsatz gut geeignet sind und damit die Erzeugung der erneuerbaren Energien ausgleichen können. Sie sind deutlich flexibler als Grundlastkraftwerke und benötigen geringere Einsatzzeiten, um ihre Vollkosten zu decken. Im idealen Kraftwerkspark liegt der GuD-Bestand langfristig bei rund 15 GW – also 60 Prozent über dem Referenzszenario.
4. Bedarf an Spitzenlastkraftwerken steigt
Bedarf an flexiblen Optionen steigt auf rund 35 Prozent. Zur Deckung von Nachfragespitzen in sonnen- und windarmen Stunden sind offene Gasturbinen, Stromspeicher und nachfrageseitige Flexibilität besonders geeignet. Gasturbinen haben geringe Investitions- und Fixkosten, dafür hohe variable Kosten. Daher können sie bei den aktuellen Marktbedingungen am wirtschaftlichsten Strom zur Verfügung stellen, um stundenweise Nachfragespitzen aufzufangen. Im idealen Kraftwerkspark machen diese flexiblen Optionen bereits zu Beginn rund 25 Prozent aus und steigen kontinuierlich auf rund 35 Prozent in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums. Auch das reale Szenario kommt ohne die Bereitstellung flexibler Spitzenlastkapazitäten nicht aus. Jedoch erfolgt ihr Zubau später als im Idealmodell und immer nur in Abhängigkeit von der Außerbetriebnahme von Bestandskraftwerken. Im Jahr 2022 liegt die Spitzenlast im realen Kraftwerkspark demnach bei rund 15 Prozent – ideal wären 25 Prozent.
5. CO2-Schleudern abschalten - Speicherkapazität ausbauen
Die Autoren kommen zu dem Schluss, ein uneingeschränktes Festhalten insbesondere am Bestand alter und wenig effizienter Kohlekraftwerke verhindere, dass Deutschland seine selbst gesteckten Klimaschutzziele erreichen kann. Um die nationalen Klimaschutzziele zu erreichen, sind nach Ansicht der Wissenschaftler einige Schritte sinnvoll: Im Sinne des Klimaschutzes sollten ineffiziente Kraftwerke mit den höchsten CO2-Emissionen vor Ende ihrer technischen Lebensdauer stillgelegt werden. Dieses Vorgehen ist laut Studie der geringstmögliche und damit effizienteste Eingriff in den Bestand an Kraftwerken, will man die Klimaschutzziele langfristig gewährleisten. Derzeit werden moderne gasbefeuerte Anlagen aus dem Markt gedrängt. Eine Reduzierung der Kohleverstromung erhöht daher die Chance, dass bestehende GuD-Kraftwerke langfristig in Betrieb bleiben und notwendige Neubauten in diesem Segment angereizt werden. Der Bedarf an flexiblen Spitzenlastkraftwerken wächst. Im bestehenden Marktsystem werden sie trotz ihrer Systemvorteile jedoch nicht angereizt. Deshalb erscheint eine Anpassung des Marktdesigns dringend erforderlich, um die Entwicklung in Richtung eines optimierten Kraftwerksparks voranzutreiben. Lastflexibilität, Speicher, Nutzung von Strom im Wärme- und ggf. Mobilitätssektor sind als Ausgleichsoptionen für die volatile Einspeisung der EE wichtig und werden im idealen Kraftwerkspark zukünftig umfassender benötigt. Sie müssen jedoch weitgehend noch erschlossen werden. Gelingt dies, dann stellen sie eine effiziente Ergänzung zu den (Spitzenlast-)Kraftwerken im optimierten Kraftwerkspark dar. Auch hierfür könnte ein neues Marktdesign Anreize setzen. (Nicole Weinhold)