Digitale Zwillinge der Stadt Paderborn für alle Lebensbereiche gibt es nicht. Doch solche digitalen Zwillinge sollen den künftigen Überblick nicht zuletzt über den Verkehrsfluss in ihr mit Energieverbräuchen und Emissionen oder über ihre Strom- und Wärmenetze oder über die intelligente Steuerung einer autonomen Energieversorgung von Wohnquartieren schaffen. Dafür gibt es zehn Millionen Euro Fördergeld aus Berlin. Denn Paderborn war eine von rund 30 Kommunen und kommunalen Bündnissen, die das Innenministerium 2020 in das Programm Smart Cities aufnahm. Die Stadt will nun digitale Zwillinge für ihre Funktionen entwickeln und sich auf Basis schneller Datenkabel neu gründen.
Moderatorin des Modellprojekts ist eine zentrale Stabsstelle für Digitalisierung. Es richtet sich vor allem auch auf Ziele wie Demokratie, Teilhabe oder Entbürokratisierung und Transparenz. Doch gerade die Energieversorgung könnte vielfach von dem anvisierten Modernisierungsschub profitieren, wie Stabsstellen-Mitarbeiter Philipp Ohms erklärt: Die „verlustfreie Nutzung“ insbesondere der in der Umgebung stark ausgebauten Windkraft nennt er als Teil der Paderborner Smart-City-Vision, ebenso den Aufbau eines intelligenten Energiemanagements über die örtlichen Stromnetze. Auch die Fernwärmeversorgung, die durch exaktere Echtzeit- und Prognosedaten besser zu steuern sein wird. Mehr Elektromobilität durch mehr Ladeinfrastruktur. Vor allem aber könnte sich Verkehr von „multimodalen Verkehrskonzepten“ gesteuert grundsätzlich verändern: Menschen steigen vom Auto auf Leihräder um oder nutzen in der Stadt verteilte Teile-Autos mit Umstieg in Busse – verbunden mit digitalen Buchungs- und Bezahlsystemen.
Plattform für geregelte Energieströme
Wie Stadtwerke prinzipiell die digitalisierte Energiewende mitgestalten wollen, zeigen die jährlichen Studien des Energiebranchenverbands BDEW durch Marktanalyse-Dienstleister Ernst & Young (EY). Gefragt, in welchen Bereichen sie als sogenannte Plattformbetreiber in der Digitalisierung geschäftliche Perspektiven für sich sehen, verwiesen die kommunalen Versorger in Deutschland 2020 an erster Stelle auf eine dezentrale Stromerzeugung inklusive Stromspeicherung. 84 Prozent der befragten Unternehmen erwarten demnach, durch Nutzung von Datenströmen und intelligentem Lastmanagement in Energienetzen sowie durch automatisierte Fernsteuerung wetterabhängiger Wind- und Solarenergieanlagen geldwerte Dienstleistungen anbieten zu können. Mit 71 und 70 Prozent nennen sie danach das Smart Metering und fast gleichauf die Elektromobilität. Und mit noch 50 bis 60 Prozent sind Wärmeservices, Smart-City- und Quartierskonzepte für sie Zukunftsfelder – oder auch die Vermarktung von Flexibilitäten: Stadtwerke könnten hierbei moderieren, dass vor allem größere Stromverbraucher wie Unternehmen oder Betreiber von Stromspeichern ihren elektrischen Verbrauch an einer ausgeglichenen Ein- und Ausspeisung der Netze ausrichten. Und Stadtwerke könnten diese Fähigkeit im Stromhandel womöglich vermarkten.
Begonnen hat diese digitale Zukunft vor allem bei Mieterstrommodellen und Quartierskonzepten sowie der Stromdirektvermarktung mit 44 und 43 Prozent hieran schon heute aktiv beteiligter Unternehmen. Energieautarkielösungen für Gewerbe und Industrie sowie auch im privaten Bereich bieten ein Viertel der Unternehmen an. Bisher erst 9 Prozent bauen Prosumer Communities auf: Netzwerke von Eigentümern etwa von Photovoltaikanlagen auf dem Eigenheim, die auch Stromkunden sind. Die städtischen Paderborner Digitalisierer beziehen immerhin bereits den Verteilnetzbetreiber der Großregion um Paderborn mit ein, die Westfalen Weser Energie – der über eine Smart Grid Data Platform die Verteilnetze digitalisieren will.
Orts- und Verteilnetze lernen sehen
Dass die Energiewende so vorankommt und für die kommunalen Energieunternehmen wirtschaftlich wird, darum kümmert sich Venios. Das Software-Entwicklungsunternehmen aus Frankfurt nennt es „Verteilnetzmanagement aus der Steckdose“: Es entwickelt im Auftrag eines Versorgers im Netzbetrieb einen digitalen Zwilling des realen örtlichen Stromnetzes – und trainiert dessen Rechenmodelle durch Spannungs-, Last-, Einspeise- oder Verbrauchsdaten aus dem realen Netz. „Damit erzeugen wir auch in den Netzsegmenten gute Transparenz und Erkenntnisse, in denen keine Messtechnik im Netz verbaut ist“, sagt Rene Kersten, Chef der Unternehmensentwicklung bei Venios.
Während klassische Netzleitsysteme bisher nur die großräumigeren Mittelspannungs- bis Höchstspannungsnetze mit Messeinrichtungen systematisch kontrollieren, sind Niederspannungsnetze trotz an ihnen erfolgender Einspeisung aus Kleinstanlagen ohne diese Kontrolle. Doch könnten Betreiber von Niederspannungsnetzen den zu verschiedenen Tageszeiten in verschiedenen Richtungen passierenden Strom von Erzeugern und Kleinverbrauchern sowie die Spannungsbänder aktiv managen, könnten sie den Wohnquartieren, Industrieunternehmen und Gewerbebetrieben eine intelligentere Stromversorgung ermöglichen.
Mit möglichst vielen Daten, auch vom Wetter oder von städtischen Veranstaltungen, kann das Venios-System so über Big-Data-Verarbeitung diese Lastsituationen handhabbar machen. Soll heißen: Das lernende System sammelt Unmengen auch nicht kompatibler Daten in dafür reservierten digitalen Räumen des Internets, also in einer Cloud, und erlaubt Netzbetreibern und auch Stadtwerken einen Zugriff für neue Geschäftsmodelle. Sobald die Venios-Kunden zudem Sensorik zur Netzlastbemessung, moderne regelbare Ortsnetztransformatoren oder das Smart-Metering durch Verbrauchsmesssysteme in Häusern einbauen, lässt sich der digitale Zwilling noch genauer abbilden.
Stadtwerkeverband VKU hat bereits 3.500 Digitalisierungsprojekte seiner Mitglieder aufgelistet. Welche Geschäftsmodelle dabei entstehen, ist noch im Fluss. Marktbeobachter und EY-Studienautor Frank Fleischle erkennt einen Trend zum „Paketieren von Lösungsbausteinen“: Stadtwerke kombinieren Erzeugungs- und Speichertechnologie mit Energiemanagement und Energielieferung. Als Dienstleister und auch Mess- und Speichertechnikzulieferer holen sie so in Gebäuden oder Anlagen der Kunden wirtschaftlich optimierte Ergebnisse heraus. Auch ein dynamisches Engpassmanagement zur Entlastung der Stromnetze für Ladesäulen von Elektroautos kann daraus folgen.
Hennigsdorfer Wärmedrehscheibe
Soweit ist es noch selten. Die Stadtwerke von Hennigsdorf bei Berlin haben daher ihre Digitalisierungs- und Energiewende zunächst auf Wärmeversorgung beschränkt. Im vergangenen Jahr nahmen sie einen 1.000 Kubikmeter großen Wärmespeicher am Standort des erdgasbefeuerten großen Heizwerks mit einer Wärmeleistung von 18,5 Megawatt (MW) in Betrieb. Der Speicher ist mehr als nur ein Netzpuffer, der die Morgen- und Abendspitzen im Verbrauch abpuffert. Er ist in Hennigsdorf Bestandteil eines größeren Projektes, das hier Wärmedrehscheibe heißt und weitere lokale Wärmequellen einbezieht, um den emissionsfreien Anteil der Wärmeversorgung über das Fernwärmenetz von 50 auf 80 Prozent zu erhöhen: Dafür soll ein weiterer Wärmespeicher mit etwa 18.000 Kubikmeter hinzu kommen. Und es bezieht Wärme eines 10-MW-Holzhackschnitzelkraftwerks, mehrerer Solarthermieanlagen sowie einer Abwärmeauskopplung aus dem ortsansässigen Stahl- und Walzwerk mit ein.
Hennigsdorf kann nun Wärmeerzeugungs- oder Abnahmespitzen „weitgehend wegspeichern“, wie Stefan Dallorso erklärt. Dem technischen Leiter der Stadtwerke ist der hohe eingebaute digitale Automatisierungsgrad wichtig. Mit zusätzlichen Sensoren und Aktoren, also elektronische Messsignale umsetzenden Reglern und Stellgliedern, soll die Anlage das Zusammenspiel von Erzeugung und Verbrauch austarieren. Geplant ist auch eine Power-to-Heat-Funktion: Bei Überschussstrom im regionalen Übertragungsnetz des Betreibers 50 Hertz und eines Regionalnetzbetreibers, das sich bei entsprechend auffrischenden Luftströmungen mit viel Windenergie füllt, soll die Drehscheibe zusätzlich Wärme umsetzen. Die Hennigsdorfer Stadtwerke entwickelten das Konzept hierzu im Windenergie-Förderprogramm Windnode. Es muss allerdings nicht zuletzt noch die Klärung von Zugriffsrechten durch 50 Hertz abwarten, weil ab Oktober die Regelung Redispatch 2.0 für eine zunehmenden Feinabstimmung von Erzeugung und Verbrauch durch die Netzbetreiber gilt. Auch eine Elektrolyseanlage zur Erzeugung von Wasserstoff aus überschüssigem Windstrom enthält dieses Windnode-Konzept. Die Einbindung in das Rechenprogramm ist vorbereitet. „Das wäre binnen eines Jahres umsetzbar“, sagt Dallorso. Die Stadtwerke warten ab. Noch lassen die Gesetze keinen ausreichenden Markt für den emissionsfreien und vielseitig einsetzbaren Energieträger entstehen und auch noch keinen für Power-to-Heat.
EAM in Kassel bereit für Flexibilitätsmärkte
Die Netztochter des in Kassel ansässigen Regionalversorgers EAM nutzt regelbare Ortsnetztransformatoren seit einigen Jahren und ersetzte sie nun durch eine neue deutlich digitaler gesteuerte Trafogeneration. Die modernisierten Kästen erlauben Messungen der Spannung und Ströme. In Abhängigkeit von Wetterentwicklungen lassen sich Stromeinspeisung und Verbräuche prognostizieren.
Auf diesen Berechnungen will Nicolas Spengler die Steuerung für Smart Grids in Wohn- oder Gewerbegebieten sowie die Ladestationen der Elektroautos aufbauen. Der Zuständige bei EAM Netz für Innovationsprojekte lässt dafür auch Berechnungsautomatismen entwickeln, die zusätzlich ebenso Redispatch von Erneuerbare-Energien-Anlagen einkalkulieren lassen, wie die Bereitstellung von Lastkapazitäten für künftige Flexibilitätsmärkte. „Da sind monetäre Anreize für bestimmtes Verhalten eine Überlegung“, sagt Spengler. Zunächst fokussiert EAM aber auf die Versorgung der Elektromobilität. Die Preise für den Tankstrom ändern sich dann je nach Auslastung der Niederspannungsnetze. In Gewerbeunternehmen könnten Wallboxen mit Rücksicht auf Lastspitzen verzögert um vielleicht eine halbe Stunde nach dem frühmorgendlichen Abstellen die Mitarbeiterautos laden. Dies ließe sich mit der Photovoltaik-Einspeisung eines Wohnquartieres zusammenbinden.
Seit Jahren ist EAM im Entwicklungsnetzwerk C/sells des Bundeswirtschaftsministeriums engagiert. Die Leitidee zielt darauf ab, Energienetze für eine Versorgung räumlicher Zellen jedweder Größe aufzubauen. EAM sei massiv in Vorleistung gegangen, sagt Spengler. Doch der Umbau ist für EAM unausweichlich. Knapp 50.000 dezentrale Stromerzeugungsanlagen speisen in das großflächige EAM-Stromnetz ein, das überwiegend aus 23.000 Kilometer Niederspannungsleitungen und 9.500 Kilometern Mittelspannungsleitungen besteht.