Die deutschen Wähler zeigen sich wieder einmal äußerst pragmatisch. 57 Prozent von ihnen würden sich über eine Jamaika-Koalition freuen, meldete der ARD-Deutschlandtrend eine Woche nach der Bundestagswahl. Das widerspricht dem in den Wahlkämpfen von etablierten Parteien und von den verschreckten deutschen Leitmedien gemalten Stimmungsbild über einen durch Falschinformationen emotionalisierten Stimmbürger. Das Gegenteil trifft offenbar zu: Die Deutschen scheinen laut der Umfrage des staatlichen ersten Programms in ihrer Mehrheit schlicht das zu bevorzugen, was am besten für sie erreichbar ist. Eine erneute große Koalition befürworten hingegen nur noch 31 Prozent, ergibt der ARD-Deutschlandtrend. Nach der Absage der SPD an die Neuauflage der bisherigen Koalition mit den Unionsparteien erscheint den Deutschen diese Option verbaut.
Ganz anders vor der Wahl: Noch bis kurz vor dem Urnengang war das schwarz-rote Regierungsbündnis das von vielen Akteuren in Berlin als wahrscheinlichste Farbenkombination gekennzeichnete. Und die Deutschen bestätigten es in den Umfragen eins ums andere Mal. Noch im August hatte die ARD in ihrem Deutschlandtrend 44 Prozent Zustimmung für die Fortführung von Schwarz-Rot gemessen. 43 Prozent konnten sich aber auch Union und FDP gut vorstellen und 32 Prozent eine schwarz-grüne Koalition. Nur 27 Prozent sahen auch Jamaika als gut fürs Land an, also ein Bündnis von Union mit FDP und Grünen.
Bei so viel offenbar werdender Vorliebe der Bundesbürger für das Machbare kann aber auch der Wählerwillen für eine konkrete weil machbare Politik nicht mehr als Geheimnis missgedeutet werden. Gerade die Erneuerbare-Energien-Branche sollte sich trauen, selbstbewusst ihre Schlüsse für eine neue durch Wählerwillen gestützte Energiepolitik zu ziehen. Und sie in Forderungen an die nächsten Koalitionäre umformulieren. Sobald die strategischen Manöver der Parteien etwas zur Ruhe kommen und Raum für echte Verhandlungen lassen, ließen sich diese vorbringen.
Für welche Energiepolitik votierten die Deutschen also in ihrer demokratischen Abstimmung? Natürlich sind Schwarz-Gelb-Grün-Wählerinnen und –Wähler als solche eine eher seltene Spezies, wie die Umfragen vor der Wahl belegen. Kein Drittel hatte sie vorher gewollt. Doch die Situation, die sich arithmetisch und politisch aus der demokratischen Wahlhandlung ergeben hat, ist nicht Kollateralschaden sondern Schnittmenge des Wählerwillens. Die großen Scharen der von Union und SPD weggelaufenen Wähler wollen unabhängig von unter ihnen dominanten Koalitionswünschen sicherlich keine Fortführung der aktuellen Politik mehr. Selbst die SPD und CDU/CSU treu gebliebenen Bürger haben gewiss zu Teilen nicht für ein Weiter-So gestimmt. Die Vorliebe vieler Unionsanhänger für Schwarz-Gelb ist ja bekannt. Aber auch Schwarz-Grün-Befürworter sind keine kleine Minderheit im konservativen Lager mehr, wie die Akzeptanz schwarz-grüner Landesbündnisse zeigt. Wer Grüne wählte, hatte vielleicht die Hoffnung auf eine rot-grüne oder eine rot-rot-grüne Regierung nicht aufgegeben. Doch den meisten dürfte klar gewesen sein, dass auch eine Zusammenarbeit mit der Union das in Kauf genommene Ergebnis ihrer Stimmabgabe sein könnte. Einzig bei FDP-Wählern sind Präferenzen für Jamaika schwerer belegbar.
Doch was bedeutet die Farbenlehre inhaltlich für die Energiepolitik? Um es ganz einfach zu machen, zunächst dies: Mehr grüne Inhalte, was eine schnellere Energiewende mit messbaren Fortschritten beim Ausbau der Erneuerbaren und beim Kohleausstieg bedeutet. Eine in ihrer Bedeutung geminderte, aber anhaltend konservative Gesamtausrichtung, wie sie CDU/CSU verkörpert: Energiewende ja, aber geordnet und nicht zu schnell. Ein Kohleausstieg schon bis 2030 mit dann 100-Prozent-Grünstromversorgung wie von den Grünen im Wahlkampf als Vision ausgemalt, muss demnach nicht unbedingt sein. Und von den Marktliberalen der FDP hochgehalten: Eine marktwirtschaftliche Entwicklung der Energiewende mit einer dem freien Wettbewerb ausgesetzten Branche. Wohlgemerkt: Unter grünen Vorzeichen. Der Wettbewerb muss also zugunsten der vom Wähler gewünschten ehrgeizigen klimapolitischen Zielsetzungen geregelt sein. Dafür erhält die Förderung von Sektorkopplung mit der FDP ein Stimmungsplus – die Liberalen hatten im Wahlprogramm für sie sogar staatliche Unterstützung gefordert. Die Zerschlagung der Energiekonzerne oder auch nur der Ausstieg aus dem 2017 neu eingeführten Ausschreibungssystem sind als radikalere Maßnahmen mit der Partei der Linken hingegen ohnehin in die Opposition gewechselt.
Vielleicht ist anders als im Wahlkampf nun von Vorteil, dass die Parteivertreter öffentlich wie etwa in Fernseh-Talkshows weiterhin über Flüchtlinge streiten oder um verlorene Heimat und Schutz vor Terror. Das sind zwar die AFD-Themen. Doch lautet eine Weisheit im politischen Berlin bekanntermaßen, dass es immer dann richtig schwierig in Koalitionsverhandlungen wird, wenn Inhalte und Forderungen schon vorher öffentlich zerredet wurden. Da kann es als gutes Zeichen gewertet werden, dass man nun noch nicht öffentlich über Energiepolitik spricht.
Gut ist vielleicht sogar, dass Grüne und FDP bereits in stille bilaterale Gespräche gehen wollen, während die Unionsparteien noch gemeinsame Positionen suchen oder taktieren. Denn über Flüchtlinge, innere Sicherheit und Terror muss sich Grün-Gelb nicht lange austauschen sondern vielmehr im Schulterschluss eine Position gegen die Union einnehmen. Zur Energiepolitik hingegen könnten sie, wenn es gut läuft, hinter verschlossenen Türen pragmatische Einigungen erzielen: die Markt zulassen und zugleich den Wechsel zu erneuerbaren Energien beschleunigen. Die Union könnte beide Parteien dann bei Jamaika-Verhandlungen hierbei nicht mehr machttaktisch gegeneinander ausspielen.
(Tilman Weber)