Noch vor wenigen Monaten ging ein Aufschrei durch die Branchen der erneuerbaren Energien. Miguel Arias Cañete sollte Energiekommissar der Europäischen Union werden. Der Spanier hatte sich bisher wenig um Ökostrom oder erneuerbare Wärme gekümmert und sich überhaupt nicht um den Umweltschutz geschert. Für die Energiepolitik in Europa drohte er genauso zum Totalausfall zu werden wie sein Vorgänger Günther Oettinger – eine rollende Kanonenkugel an Deck des Energiewendeschiffes der Europäischen Union.
Strommarkt muss angepasst werden
Lange hat Cañete auf sich warten lassen. Jetzt hat er seine Politik umrissen. Allen Erwartungen zum Trotz sind seine Ziele vor allem dem Ausbau der erneuerbaren Energien in Europa gewidmet. Immerhin unterstützt er in seiner ersten Rede als Energiekommissar die Umsetzung einer Richtlinie für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Für das übernächste Jahr hat er schon mal ein neues Politikpaket zur Unterstützung des Ausbaus der erneuerbaren Energien angekündigt. Das Ziel ist, die anvisierten Ziele für die Energieversorgung in Europa möglichst kosteneffektiv zu erreichen. „Dies beinhaltet auch eine neue Politik für eine zukunftsfähige Bioenergie“, betont Cañete. Er will die Förderung der Erneuerbaren auf europäischer Ebene besser koordinieren. Hier geht es nicht zuletzt um die Energiemärkte. „Die Energiemärkte und die Netze müssen fit gemacht werden für die Erneuerbaren und nicht umgekehrt“, sagt Cañete salomonisch. „Die Märkte sollte so auf- oder umgebaut werden, dass die erneuerbaren Energien vollständig in einem erweiterten Strommarkt integriert werden können und die bestehenden Hürden müssen beseitigt werden.“ Dazu solle vor allem der Spotmarkt eine größere Rolle übernehmen – eine Forderung, die die Branchen der Erneuerbaren schon lange erheben.
Mehrfach unter Druck
Dieser Sinneswandel kommt nicht etwa daher, dass sich Cañete eines Besseren besonnen hat. Er wird kaum zum Freund der dezentralen Stromversorgung mit kleinen und mittelgroßen Solar-, Windkraft- oder Biomasseanlagen mutieren, auch wenn er die Rolle der Genossenschaften beim dezentralen Ausbau der erneuerbaren Energien betont. Diese Erwartung hat niemand, der Cañete kennt. Immerhin hat er seine Rede in einem Gebäude gehalten, in dem eine Photovoltaikanlage auf dem Dach die Wärmepumpen im Keller antreiben und für das Licht sorgen, das auf Cañetes Rede fällt. Doch auch, dass weder das Licht flackert noch seine Zuhörer vor Kälte im Raum zittern, wird ihn in einer Grundhaltung nicht umstimmen.
Vielmehr ist er gleich mehrfach unter Druck. Zum einen hat der die Vorgabe seines Chefs. Jean-Claude Jucker will als Kommissionspräsident neue Akzente setzen. Er will größere und ehrgeizigere Ziele umsetzen als sein eher blasser Vorgänger. Dabei ist der Klimawandel eine der größten Herausforderungen unserer Zeit, wie selbst Cañete beginnt zu erkennen. Ob er diese Tatsache auch verinnerlicht hat, bleibt erst einmal vage. Er leitet dieses Thema mit den Worten: „Viele Leute sagen, dass der Klimawandel eine der größten Bedrohungen ist, mit der sich unsere Gesellschaft konfrontiert sieht.“ Immerhin verweist er im Nachhinein darauf, dass die EU bisher bei der Reduzierung der Treibhausgasemissionen führend war.
Cañete muss Klimapolitik betreiben
Hier trifft Cañete auf seine zweite Leitplanke, die ihn auf Kurs halten wird. Denn anders als Oettinger muss er zusätzlich Verantwortung für die Klimapolitik der Europäischen Union übernehmen. Da steht immerhin der Klimagipfel im Zentrum Europas an. In Paris muss er – ob er will oder nicht – die anderen Staatschefs davon überzeugen, dass der Klimawandel eine ernste Angelegenheit ist, die alle angeht. Dabei muss er glaubhaft vertreten, dass es die Europäische Union mit dem Ziel Ernst meint, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 40 Prozent zu senken. Kann er das nicht, wird er dafür verantwortlich sein, dass der Klimagipfel in Paris zum Reinfall wird.
Den Scherbenhaufen wegfegen
Ein dritter Grund für seinen Wandel, den er zumindest derzeit nach außen trägt, ist eher persönlicher Natur. Als Mann, der auch vor – vorsichtig ausgedrückt – unkonventionellen Methoden nicht zurückschreckt, seine Ziele zu erreichen und die Bühne für sich zu erobern, muss er sich von der Blockadepolitik seines Vorgängers absetzen. Nur so kann er eigene politische Akzente in Brüssel setzen. Sonst geht er als Abklatsch von Günther Oettinger unter – und wer will das schon.
Sicherlich tritt Cañete ein schweres Erbe an. Den Scherbenhaufen, den Oettinger hinterlassen hat, muss er jetzt erst einmal wegfegen. Außerdem müssen den hehren Worten Cañetes jetzt auch Taten folgen. Die sind dringend notwendig, um das Vertrauen der Bürger in die Ernsthaftigkeit einer europäischen Energiewende nicht völlig zu zerstören. Die erste Sprengladung hat die Kommission an dieses Vertrauen schon gelegt, indem sie die üppigen Subventionen für das Atomkraftwerk Hinkley Point in England für rechtens erklärt hat. Vorschusslorbeeren für Cañete sind an dieser Stelle sicherlich nicht angebracht. So richtig glauben mag man ihm erst, wenn die ersten konkreten Vorschläge auf dem Tisch liegen. Aber immerhin hat er schon einmal eine Position bezogen, auf die man ihn festnageln kann. (Sven Ullrich)