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Wem gehört der Wind? Bizarrer Streit spaltet Europa

Alles begann mit einem scheinbar harmlosen Interview mit dem spanischen EU-Abgeordneten und Klimaaktivisten Javier Manrique in der TV-Sendung „Climate Affairs“ – dem britischen Pendant zum hiesigen „Klima vor Acht“, das vor den BBC-Abendnachrichten ausgestrahlt wird. Manriques These in der Sendung von Mittwoch, dem 29. März 2023 lautet schlicht: Die Windressourcen in Europa seien nicht nur ungleich sondern vor allem ungerecht verteilt.

Und so sei es auch kein Zufall, dass gerade in Deutschland derart viele Windenergieanlagen stehen, profitiere die Bundesrepublik doch auch überproportional von Winden, die überhaupt nicht in Deutschland entstanden seien. All dies sei wirtschaftspolitisches Kalkül, das die wesentlichen Akteure ausschließe.

Selbst ein betagter und höchst erfahrener Moderator wie Ewan McCullough, der für seinen hellwachen und charismatischen wie auch von typisch englischem Understatement geprägten Interviewstil bekannt ist, zeigte sich zuweilen wechselnd irritiert und erheitert von den Aussagen des 26-jährigen Abgeordneten aus der Greens/EFA-Fraktion im EU-Parlament.

Manrique legte zu seiner These der ungerecht verteilten Winde gar noch eine Schippe drauf: „Die finanziellen Erträge, die Deutschland mit fremdem Wind erzielt, müssen gerecht mit jenen Ländern aufgeteilt werden, die diese Erträge überhaupt möglich gemacht haben – namentlich mit Spanien, Portugal und Frankreich, ebenso auch mit den Transitländern. Alles andere wäre buchstäblich Diebstahl“.

Dieser hakte sichtlich erheitert nach, wie Manrique denn gedenke, die Deutschen davon zu überzeugen, Geld für spanische, portugiesische und französische Luft zu bezahlen. Die Antwort des Abgeordneten folgte sogleich: „Meine Partei und ich haben eine Initiative gegründet, eine Petition gestartet und obendrein habe ich habe Klage beim Europäischen Gerichtshof eingereicht. Jetzt passiert endlich etwas.“

Inzwischen wurde die „Climate Affairs“-Folge aufgrund des laufenden Verfahrens sogar aus den BBC-Mediatheken entfernt. Weit aufsehenerregender ist dagegen das Statement der EuGH-Pressesprecherin Sophia Rossi auf eine Rückfrage der spanischen Tageszeitung „El Viento del Sur“: „In unserer Vorabprüfung der Klageeinreichung ist der Europäische Gerichtshof zu dem Schluss gekommen, dass die Vorwürfe plausibel sind und im Einklang mit dem Solidarprinzip der EU stehen. Das kommende Urteil hierzu ist reine Formalität.“ Mit dem Spaß à la Monty-Python hat dies wahrlich nichts mehr zu tun.

Die Forderungen werden lauter, der Ton schärfer

Javier Manriques Engagement für eine vermeintlich gerechtere Verteilung von Windressourcen scheint aufzugehen, und die durchaus vorschnelle Verkündung des EuGH über die erfolgversprechenden Aussichten der Klage, bringen zusätzliche Brisanz in die stürmische Debatte. Wie nie zuvor steht die deutsche wie gesamteuropäische Energiepolitik vor einer Zerreißprobe, geprägt von schleppender Bürokratie, hausgemachten Nebenschauplätzen und parteipolitischem Klein-klein.

Sicher ist: Der politische Haussegen hängt schief. Folgt nun noch der Unmut der Bevölkerung auf dem Fuße? Die Wahrscheinlichkeit dafür ist hoch, gab es am gestrigen Freitag doch bereits erste Proteste von Klimaaktivisten aus dem Umfeld Manriques in den „Haupt-Windentstehungsländern“. Direkt vor den deutschen Botschaften in Sevilla und Lyon waren Parolen wie „Gerechtigkeit im Wind“ oder „Unser Wind = unser Geld“ oder „Ihr nehmt uns die Luft zum Atmen“ zu lesen und zu hören.(nw)

Hier geht es zur Originalquelle des Textes.

wind-turbine.com

Auch in den Reihen der EU-Politik werden erste Stimmen nach einer Kompensationslösung lauter. „Der luxemburgische EU-Kommissar für Klimaschutz, Jean-Marie Bossard, äußerte sich auf seinem Twitter-Kanal recht deutlich: "Wir müssen ein solidarisches Europa fördern und sicherstellen, dass alle Mitgliedstaaten von den Erneuerbaren profitieren. Warum sollte Deutschland einziger Nutznießer der Windenergie sein, wenn andere diesen Erfolg in Form der Ressource Wind überhaupt möglich machen? Das widerspricht unseren Werten.“
 

Wesentlich konfrontativer und weit weniger kompromissbereit klang dagegen die Aussage der französischen Klima- und Wirtschaftsministerin Geneviève Moreau in ihrem Tweet am selben Tag. Darin heißt es: „Wir werden nicht darüber diskutieren. Es ist, wie es ist: Französischer Wind weht den Deutschen Geld in die Tasche. Wo ist unser Lohn? Wir wollen und wir werden diese Ungerechtigkeit beenden, das sind wir unseren Wählerinnen und Wählern schuldig.“

„Das ist meteorologische Wegelagerei“

Auch von Seiten der Wissenschaft bekommen die Forderungen nach Entschädigung an die Windentstehungsstaaten weiter Auftrieb. Die schwedische Klimaforscherin Jytte Bergström vom renommierten Schwedischen Klimainstitut "Sveriges Klimatforskningsinstitutet in Göteborg bestätigt die These von Deutschlands Nutznießer-Lage. Man könnte den Eindruck gewinnen, all dies sei für die Wissenschaftlerin längst nichts Neues.

„Unsere Forschungen zeigen eindeutig den Weg der Windströmungen in Europa. Das kann man sich jeden Tag in der Wettervorhersage im TV anschauen. Wir haben aber auch nachgemessen. Unsere Messdaten lassen den Schluss zu, dass zwischen 70 und 80 Prozent der Windmenge in Deutschland tatsächlich aus Portugal, Frankreich und Spanien stammt. Das ist ziemlich viel. Es ist daher nur naheliegend, dass die deutsche Windindustrie in hohem Maße von Winden aus dem EU-Ausland profitiert.“, so Bergström.
 

Aus wissenschaftlicher Sicht sei daher eine Neubewertung der Verhältnisse in Sachen Profitbeteiligung zwingend notwendig, denn die Windströme seien keineswegs zufällig sondern ein physikalisch gegebener, konstanter Faktor, der ebenso konstant zu Geld gemacht wird. „Deutschland hat kaum eigenen Wind. Das ist belegt. Es ist naiv zu glauben, der deutschen Politik und Windindustrie wäre dies unbekannt.“

In der deutschen Windindustrie stößt das Engagement von Javier Manrique und die Diskussion darum erwartungsgemäß auf größtmöglichen Unmut. So bezeichnet der Vizepräsident des Bundesverband Windenergie e. V. (BWE) Volker Weberding die Idee als „an den Haaren herbeigezogen“ und „in einer unmöglichen Zeit in unerträglicher Art und Weise von einer politischen Randfigur in den Raum gestellt“.Laut Weberding hätte ein EuGH-Urteil in dieser Form schwerwiegende Konsequenzen für die hiesige Energiewende: „Was glauben all diese Leute denn, auf wen am Ende die Kosten zurückfallen werden? Das ist meteorologische Wegelagerei auf Kosten des Ausbaus des Windenergie-Ausbaus in Deutschland, und die Windindustrie samt der Energieverbraucher sollen die Zeche zahlen. Noch mehr Kosten und noch mehr Bürokratie bedeuten noch

Vor allem den Endverbrauchern seien die zu Mehrkosten weder zuzumuten noch in irgendeiner Weise sinnvoll und nachvollziehbar zu erklären, so Weberding. Die Umsetzung der Energiewende sei finanziell bereits mit hohen Aufwänden verbunden, wie die aktuellen Stromrechnungen zeigen.

„Es ist schwierig, eine genaue Größenordnung für die möglichen Mehrkosten je Kilowattstunde anzugeben, da dies von vielen Faktoren abhängt. Wir können im Moment nicht abschätzen, was bei einem für die Kläger positiven EuGH-Urteil auf die Stromkunden zukommt. Aber im Kontext mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen und den daraus ableitbaren Kompensationssummen, können wir von bis zu 20 Prozent höheren Kosten je Kilowattstunde Strom ausgehen. Das können Sie heute niemandem mehr auftischen.“

Ohrenbetäubende Stille – in der deutschen Politik und in den Medien

Während im Ausland – sowohl in Politik und Medien als auch im alltäglichen Leben – die Diskussionen um die Beteiligung der Windentstehungsstaaten Spanien, Portugal und Frankreich immer mehr hochkochen, könnte man meinen, all dies sei in Deutschland noch überhaupt kein Thema. Das kommt den Vertreterinnen und Vertretern der Ampel-Koalition durchaus gelegen, möchte man seine Wählerschaft nicht unnötig gegen sich aufbringen.

Und so übt sich die Bundesregierung in gewohnt behäbiger Rhetorik. In einer ersten Stellungnahme äußerte die stellvertretende Regierungssprecherin Monika Kühn auf der gestrigen Bundespressekonferenz: „Wir sind uns der Untersuchungen und der Klage beim Europäischen Gerichtshof bewusst. Wir werden die Ergebnisse und Entscheidungen abwarten, bevor wir präziser Stellung beziehen oder Maßnahmen ergreifen können. Dafür bitten wir um Verständnis“.

Auch Wirtschaftsminister-Habeck meldete sich auf die wenigen Rückfragen aus der Presse zu Wort, wenngleich auch nicht minder schwammig. So sei es wichtig, die Bedenken und Forderungen der Windentstehungsstaaten ernst zu nehmen und über eine gerechte Verteilung von Windenergie ergebnisoffen zu diskutieren. Es wäre „im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland“, eine zu Lösung finden, die sowohl fair als auch praktikabel sei.

„Wir sind derzeit in einer Phase, in der wir verschiedene Optionen prüfen und die Auswirkungen einer möglichen Kompensation für Deutschland und die europäische Energiewende sorgfältig abwägen müssen. Wir werden die Ergebnisse des laufenden Verfahrens beim Europäischen Gerichtshof abwarten und uns dann auf konkrete Maßnahmen und Ideen verständigen.“, so Habeck. Eine klare Äußerung, wie man sie sich von einem Entscheider in diesen Zeiten wünschen würde, klingt beileibe anders.

Die unisono auf der Bundespressekonferenz vorgetragenen Aussagen der Bundesregierung, es bliebe nichts weiter übrig, als die weiteren Entwicklungen und finale Urteil des Europäischen Gerichtshofs abzuwarten, wirkt planlos, ja sogar hilflos. Zu sehr vermag diese Situation die Gemüter in Europa zu spalten, als dass sich Habeck & Co. nun erlauben könnten, ihr mit einer Vogel-Strauß-Politik zu begegnen.

Das EuGH-Urteil – sprich, die Antwort auf die Frage, ob der Wind tatsächlich denjenigen gehören kann, in deren Ländern er entsteht, dürfte erschütternde Folgen haben. Sowohl für das gesamteuropäische Vertrauen als auch für den Glauben der Bürger in die europäische Solidarität und in die Ernsthaftigkeit, den Klimawandel mit vereinten Kräften aufzuhalten. Dies wäre zumindest der Fall, wenn diese Geschichte tatsächlich stimmen und es sich nicht um einen Scherz zum 1. April handeln würde.(nw)