Ricardo Reibsch
Neben der Bewältigung der Corona-Krise bleibt der Klimaschutz eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Die Verletzlichkeit der Lebensgrundlagen auf dem Planeten Erde werden dieser Tage besonders spürbar. Doch leider fehlt es nach wie vor an einer Strategie, wie der Transformationsprozess hin zu einem klimaverträglichen Energiesystem gestaltet werden soll.
Orientierungslosigkeit bei der Energiewende
Mit dem Kohleausstieg und der Notwendigkeit, auch aus anderen fossilen Energien auszusteigen, bedarf es einer Strategie, wie ein postfossiles Energiesystem aussehen kann.
Ein mutiger Ausbau Erneuerbarer Energien und das Umsetzen von Energieeinsparungen könnte einen Weg aufzeigen.
Doch leider deuten die derzeitigen Anstrengungen der Bundesregierung nicht auf einen baldigen Umstieg auf 100% erneuerbare Energien hin. Die Aufhebung des PV-Deckels lässt nach wie vor auf sich warten und verursacht bereits jetzt Planungs- und Investitionsunsicherheit in der PV-Branche. Der Ausbau der Windenergie wird augenblicklich mit wenig praxistauglichen Abstandsregelungen verhindert. Und das Erneuerbaren-Energien-Gesetz (EEG) wurde in den letzten Jahren mehr und mehr umgebaut zu einem Gesetz, das Erneuerbare Energien verhindert, anstatt sie zu fördern.
Ohne einen ambitionierten Ausbau von erneuerbaren Energien und eine klare Strategie, wie eine Transformation des Energiesystems aussehen kann, steuert Deutschland jedoch auf eine Lücke an Erzeugungskapazitäten zu. Denn der Umstieg auf Elektromobilität und Wärmepumpen bringt zusätzliche Verbraucher ins Stromnetz. Der Bedarf an sauberem Strom steigt, wodurch sich das Problem weiter verschärfen wird.
Atomenergie verspricht Klimaschutz
Angesichts der Diskussionen um mehr Klimaschutz wittern alte Seilschaften der Atomenergie ihre Chance, den Atomausstieg zu kippen. Eine Laufzeitverlängerung oder sogar der Bau neuartiger Typen von vermeintlich sicheren Atomkraftwerken, die angeblich CO2-neutral Strom produzieren, wird proklamiert.
Nicht nur die AfD vertritt in ihrem Grundsatzprogramm die Meinung, der Atomausstieg sei überhastet und wirtschaftlicher Unsinn. Auch das Europaparlament ergänzte letzten November mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und AfD einen Beschluss der Klimakonferenz in Madrid so, dass die Atomkraft als Klimaretter bezeichnet wird. Und neben dem Volkswagenchef Norbert Diess sieht auch der Anwärter auf den CDU-Parteivorsitz, Armin Laschet, den Atomausstieg als verfrüht an und plädiert somit indirekt für eine Laufzeitverlängerung.
Dabei gibt es viele Gründe, auf Atomenergie zu verzichten: Das Risiko einer radioaktiven Katastrophe, ungelöste Endlagerproblematiken, hohe Kosten und lange Bauzeiten sind nur einige Beispiele. Auch aus technisch-systemischer Sicht ist die Atomenergie allerdings keine geeignete Partnerin für erneuerbare Energien.
Atomenergie und erneuerbare Energien vertragen sich nicht
Ein Vorwurf an Erneuerbare Energien ist, sie seien nicht grundlastfähig. Da eine Energieversorgung nur mit Grundlast-Kraftwerken wie Braunkohle- und Atomkraftwerken möglich sei, wäre eine 100%-Versorgung durch erneuerbare Energien nicht möglich. Richtig ist: Erneuerbare Energien wie Wind- und Solarenergie liefern ein wetterabhängiges, fluktuierendes Energieangebot, dass zu manchen Zeiten den Strombedarf nicht voll decken kann, etwa wenn bei wenig Wind und Sonne ein hoher Strombedarf besteht. Zu anderen Zeiten hingegen wird ein Überangebot zur Verfügung gestellt.
Um den Stromverbrauch in jedem Augenblick zu decken – so nun die Idee, sind technische Lösungen notwendig, die schnell reagieren und sich flexibel regeln lassen. Hier stößt aber das ehemals bewährte Konzept von Grund-, Mittel- und Spitzenlast an seine Grenzen. Es ist ein Modell des konventionell-fossilen Energiesystems – und beruht auf einer veralteten Denkweise, die nicht mehr mit der erneuerbaren Energiewelt vereinbar ist.
Atomkraftwerke widersprechen Prinzipien des erneuerbaren Energiesystems
Ein Energiesystem, das auf Erneuerbaren Energien basiert, muss vielmehr nach folgendem Prinzip arbeiten:
1. Solarenergie, Windkraft und Wasserkraft tragen zur Lastdeckung bei.
2. Überschüsse werden in Batterien oder anderen Speichertechnologien gespeichert oder mit Hilfe von Power-to-Gas, Power-to-Heat oder anderen Technologien in andere Energieformen umgewandelt.
3. Bei Unterversorgung muss die restliche Last durch regelbare Einheiten wie Speicher, erneuerbares Gas und andere Techniken gedeckt werden.
Dafür werden Versorgungseinheiten benötigt, die schnell auf Überschüsse oder Unterversorgung im Netz reagieren können. Hier tritt das Defizit von Atomkraftwerken besonders zutage. Sie lassen sich nur langsam regeln und sind nicht für schnelle Anpassungen ausgelegt. Ein häufiger Lastwechsel würde sogar zu deutlich höheren Materialbelastungen und damit zu schnelleren Ermüdungserscheinungen führen, was sicherheitstechnisch sehr bedenklich ist.
Partner der Erneuerbaren: Flexibilitätstechnologien statt Atom
Ein Weiterbetrieb oder sogar Neubau von Atomkraftwerken würde die Stromnetze für Jahrzehnte verstopfen und den nötigen Ausbau der Erneuerbaren Energien zusätzlich erschweren. Stattdessen müssen mehr flexible Einheiten ins Stromnetz eingebunden werden. Die Möglichkeiten dafür sind vielfältig. Von Batteriesystemen über Power-to-Gas und Power-to-Heat bis hin zu flexiblen Lasten (Demand-Side-Management) werden Technologien benötigt, die sich auf das schwankende Energieangebot von Sonne und Wind einstellen können (Beitrag aus der EnergieSystemWende-Kolumne). Siehe auch: Nur so kann ein sicheres und resilientes Energiesystem bestehend aus erneuerbaren Energien aufgebaut werden. Atomkraft ist hierfür keine Freundin der erneuerbaren Energien, sondern unflexibel, gefährlich, teuer und veraltet.
Ricardo Reibsch forscht am RLS-Graduiertenkolleg an neuen Anwendungen für Speichertechnologien. Im Fokus steht die Rolle dezentraler Batteriespeichersysteme zum Gelingen der Energiesystemwende in Niederspannungsnetzen unter Einbeziehung von Elektromobilität und elektrischen Wärmeerzeugern.
Weiter Artikel der Reiner-Lemoine-Stiftung unter der Rubrik Energiesystemwende finden Sie hier. Bleiben Sie über die weitere Entwicklung zur Flexibilisierung auf dem Laufenden. Abonnieren Sie dazu unseren kostenlosen Newsletter! Hier können sie sich anmelden.