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Interview

„Öffnung aller Märkte ist der wichtigste Baustein“

Was sind die zentralen Herausforderungen der Energiewende?

Martin Grundmann: Die Öffnung aller Energiemärkte für die Erneuerbaren ist der wichtigste Baustein für die Energiewende. Durch das Erneuerbare-Energien-­Gesetz, das EEG, haben wir im Stromsektor einen hohen erneuerbaren Anteil erreichen können. Es muss aber endlich auch bei Verkehr und Wärme ein geregelter Zugang der Erneuerbaren ermöglicht werden. Nur so können die Klimaziele erreicht werden, da 80 Prozent des Energieverbrauchs in diesen Sektoren stattfindet. Notwendig ist also ein höheres Tempo bei der Dekarbonisierung der Energieversorgung. Die nächste zentrale Herausforderung heißt Sektorenkopplung. Gerade nicht benötigte Energie aus dezentralen, variablen Energiequellen wie Wind und Sonne muss wirtschaftlich in andere Energieformen umgewandelt und im Verkehr oder in der Wärmeversorgung eingesetzt werden. So sinkt die Menge abgeregelter sauberer Energie, was zur Dekarbonisierung beiträgt.

Ist der geplante Netzausbau nötig?

Grundmann: Ein ausreichend dimensioniertes Netz ist die nötige Infrastruktur für jedes Stromversorgungssystem. Um den Klimawandel zu stoppen, ist aber ein europaweiter Erneuerbaren-Ausbau notwendig. Hierfür benötigen wir große Transportkapazitäten. Zugleich müssen Verteilnetze zur regionalen Nutzung grüner Energie ausgebaut werden. Und dann muss das System intelligent verknüpft werden.

Sie betreiben das Erneuerbare Kraftwerk, ein virtuelles Kraftwerk zur intelligenten Steuerung von Erneuerbaren-Anlagen. Was leistet es für die Versorgungssicherheit?

Grundmann: Es bündelt große Mengen erneuerbarer Energie auf einer Leitwarte in hoher zeitlicher Auflösung. Zugleich garantiert es die jederzeitige Verfügbarkeit der Informationen, die zur Versorgungssicherheit auf Basis erneuerbarer Energien benötigt wird. Durch die Synchronisation von Erzeugung und Verbrauch in Echtzeit ist das Erneuerbare Kraftwerk in Breklum in der Lage, ein System mit beliebig hohem Anteil an erneuerbarer Energie zu steuern und Versorgungssicherheit zu bieten.

Stimmt es, dass die Erneuerbaren konventionelle Kraftwerke brauchen, um Netz­stabilität zu erlangen?

Grundmann: Es geht nicht um konventionelle Kraftwerke: Variable erneuerbare Energieerzeugung benötigt flexibel anpassbare Erzeugungskapazitäten für eine sichere Energieversorgung. Die Laufzeiten dieser Anlagen verringern sich immer mehr. Statt mit Erdgas können sie auch mit Wasserstoff oder Biogas befeuert oder durch Speicheranlagen ersetzt werden. Die Flexibilitätsoptionen werden im Wettbewerb miteinander stehen. Hierfür brauchen wir ein Level-Playing-Field …

… einen Markt mit gleichen Wettbewerbsvoraussetzungen …  

Grundmann: Zudem müssen durch die Herausnahme der verschenkten CO2-Zertifikate aus dem europäischen CO2-Handelssystem ETS realistische Verschmutzungskosten entstehen.

Sie haben ein Marktmodell entwickelt, um mit sogenannten Power-to-X-Lösungen die Zwangsabschaltung bei Erneuerbaren zu vermeiden. Was ist der Hintergrund?

Grundmann: Aufgrund des verschleppten Ausbaus der Stromnetze müssen Erneuerbare-Energien-Anlagen abgeregelt werden. Jede Kilowattstunde erneuerbaren Stroms muss und kann aber genutzt werden, um den CO2-Ausstoss zu verringern. Im Stromsektor ist der erneuerbare Anteil gut vorangekommen, im Wärmebereich und auch im Verkehr viel zu wenig. Die Sektorenkopplung lässt uns die Sektoren Wärme und Mobilität mit erneuerbarer Energie versorgen. Wichtig ist, dass hier Marktakteure miteinander in Beziehung treten können und die Erneuerbare-Energien-Erzeuger Systemverantwortung übernehmen. Wir wollen alle Flexibilitätspotenziale der Erneuerbaren nutzen, auch um die Netzstabilität zu gewährleisten.

Bleiben die Energieträger Strom, Öl und Gas Konkurrenten oder gibt es Aussicht auf eine Kopplung?

Grundmann: Auf lange Sicht werden wir eine umfassende Elektrifizierung auf Basis erneuerbarer Energien erleben, wobei Produkte wie Wasserstoff und Synthesegas aus erneuerbarem Strom umgewandelt und zur Versorgung in den Bereichen Wärme, Mobilität und Industrie dienen werden. Technisch ist das heute schon möglich. Wirtschaftlich ist es noch nicht möglich, weil etwa in der industriellen Wärmeerzeugung der Strom viermal so viel kostet wie Erdgas. Hier müssen die Abgaben und Steuern sowie der CO2-Handel so angepasst werden, dass Wettbewerbsfähigkeit gegeben ist.

Glauben Sie, dass auf Basis des Markt­modells neue Industriezweige entstehen?

Grundmann: Ja. Das Marktmodell ist ein Innovationsmotor. Heute kann erneuerbarer Strom aufgrund des mangelnden Netzausbaus nicht eingespeist werden. Doch Studien sagen uns, dass auch in Zukunft große Mengen erneuerbaren Stroms nicht über das Stromnetz transportiert, sondern vor Ort verwendet werden. Dieser Strom wird heute gekappt und steht dem Energiesystem und der Wirtschaft nicht zur Verfügung. Ziel des Transformationssystems ist es, dass Betreibergesellschaften, Versorger und Investoren aus der Industrie eine gesetzlich gesicherte Option erhalten, diesen Strom wirtschaftlich zu nutzen. Das Marktmodell würde so die Entwicklung und Herstellung von Power-to-X-Technologien beschleunigen.

Der schnelle Klimawandel fordert sofort Antworten. Wann ließe sich Ihr Konzept umsetzen?

Grundmann: Wir sind längst bereit. Es könnte direkt losgehen.

Die ARGE Netz

2009: Gründung in Breklum als Gruppe mittelständischer Erneuerbare-Energien- Erzeuger in Schleswig-Holstein
Heute: mehr als 300 Gesellschafter mit Erzeugungsvolumen von 3.500 Megawatt (MW), Hauptstadtbüro in Berlin
Entwicklung: technische und kaufmännische Lösungen für eine Energieversorgung mit erneuerbaren Energien, Teilnahme an Schaufensterprojekt NEW 4.0 Norddeutsche Energiewende
Vorzeigeprojekt EEKW (Erneuerbares Kraftwerk): 1.200 MW
Think Tank: Marktoption für abgeregelten Strom, Verknüpfung der Energiesektoren, Integration von Stromumwandlern und Verbrauchern in eine sichere Regenerativenergieversorgung

Interview: Tilman Weber