Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Virtuelle Kraftwerke

Grüner Broker

Mit 3,4 Milliarden Euro dürfte das ehemalige Stadtwerk an der Neckarmündung in den Rhein das sechst- oder siebtgrößte Energieunternehmen in Deutschland sein. Zu 51 Prozent ist die MVV Energie AG zudem nach wie vor im Eigentum der nordbadischen Großstadt. Und gerade diese Rahmenbedingungen machen den Wandel des kommunalen Versorgungsunternehmens seit seinem Börsengang 1999 und seit seiner strategischen Neuausrichtung 2009 mit einem ersten, drei Milliarden Euro schweren Investitionsprogramm für erneuerbare Energien bemerkenswert. Denn kaum ein Energiekonzern dieser Größe und nur eine Minderheit der traditionellen städtischen Versorger bewältigt den Wandel ähnlich unbeschadet.

Dabei war das vergangene Jahr möglicherweise ein entscheidendes: Schon Ende 2014 hatte MVV Energie von sich reden gemacht, als sich der Konzern an den Erneuerbare-Energien-Projektentwicklern Juwi und Windwärts beteiligte. Die beiden Unternehmen für Solar- und Windparks waren fast oder ganz in die Insolvenz geraten. MVV hatte letztlich rund 200 Millionen Euro in sie investiert. Eingerechnet ist hier eine nachträgliche Kapitalspritze für Juwi, um dem Unternehmen 2015 finanziellen Spielraum für zukünftiges Wachstum zu geben.

Abdeckung der Wertschöpfungskette

MVV Energie deckt damit die gesamte Wertschöpfungskette seiner Energiewende ab: In neue EEG-Projekte investieren, Grünstromerzeugungsparks managen, den Grünstrom vermarkten, an der Projektentwicklung für Dritte verdienen, als Generalunternehmer Anlagen installieren, Windenergie- und Photovoltaik-Anlagen instandhalten.

MVV-Energie-Hochhaus 2 | Energieversorgung durch kommunale Unternehmen auf den Kopf gestellt: Flexible Kurzfrist-Verkehrsregelung für den Strom mit virtuellen Kraftwerken. Das Foto zeigt die vor sieben Jahren neu gestaltete Außenfassade des MVV-Hochhauses in Mannheim. - © Foto: Birkenmeier Stein + Design GmbH
MVV-Energie-Hochhaus 2 | Energieversorgung durch kommunale Unternehmen auf den Kopf gestellt: Flexible Kurzfrist-Verkehrsregelung für den Strom mit virtuellen Kraftwerken. Das Foto zeigt die vor sieben Jahren neu gestaltete Außenfassade des MVV-Hochhauses in Mannheim.

Zugleich bauten die Mannheimer einen neuen Fernwärmespeicher für ihr eigenes Fernwärmenetz. In Kiel investiert die Unternehmensgruppe in  einen Wärmespeicher, der Strom aus einem neuen geplanten Gaskraftwerk mit einem Tauchsieder in Heizwärme umwandeln soll. Und im Dezember erklärten sie, zum zweiten Mal seit Anfang des Jahrzehnts drei Milliarden Euro in die weitere Transformation des Konzerns zu stecken. Das Geld solle in den kommenden Jahren vor allem in den Ausbau erneuerbarer Energien mit dem Schwerpunkt Windkraft, in Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) und Fernwärme sowie in die Bereitstellung neuer Dienstleistungen und Digitalisierungen fließen.

Virtuelles Kraftwerk hilft bei einem Spagat

Das Energieunternehmen muss wie andere traditionelle Versorger auch einen Spagat vollbringen – oder besser eine ganze Flick-Flack-Serie, Handstandüberschlage, um die Gräben gleich mehrerer Interessengegensätze zu überwinden. Dazu gehört, einerseits die Energie aus der konventionellen MVV-Erzeugung mit Kohle und künftig auch Gas sowie Restmüll weiterhin gewinnbringend zu vermarkten, und andererseits eigene Kapazitäten erneuerbarer Energien auszubauen. Dabei darf keine schädliche Konkurrenz zwischen den Geschäftsbereichen entstehen. Dazu gehört, auf der einen Seite mit schwindenden Gewinnen der eigenen Stromerzeugung umzugehen. Denn die Preise im durch Wind- und Solarstrom überfluteten Börsenstromhandel kollabieren. Dazu gehört aber auf der anderen Seite, die zu Billig- oder auch Grünstromanbietern abwandernden Kunden mit Dienstleistungen wieder neu an sich zu binden – und zwar mit solchen, die die Energiewende unterstützen, statt von ihr sonst überrollt zu werden.

Ein wichtiges Element hierbei, ist das virtuelle Kraftwerk des nordbadischen Energiekonzerns. Auf diese Computer-gestützte Steuerungseinheit für die Regulierung der Einspeisung aus dezentralen Erneuerbare-Energien-Anlagen setzen auch andere Energieversorger bereits. Doch MVV Energie will sich offenbar an die Spitze dieses Trends setzen: Im vergangenen Jahr erhöhte das Unternehmen das über das virtuelle Kraftwerk steuerbare Erzeugungsvolumen aus bundesweit verstreut angesiedelten Erneuerbare-Energien-Anlagen von 3,0 auf 4,1 Gigawatt (GW). Damit ist es möglicherweise das größte virtuelle Kraftwerk in den Händen eines Energieversorgers im Kommunalbesitz – mit Sicherheit eines der größten.

Früher und schneller Start im Jahr 2012

2012 startete MVV mit einem Modellversuch. Schnell erprobten die Mannheimer das computerbetriebene Auf- und Abregeln von Erneuerbare-Energien-Anlagen, aber auch kleinerer flexibler konventioneller Kraftwerke und Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung (KWK). Die Kunden des virtuellen Kraftwerks sind Betreiber dezentraler Anlagen wie auch Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen, die ihren Strom bei MVV in die obligatorische Direktvermarktung an den Stromhandelsplätzen bringen lassen. Dafür erhält das Unternehmen ein Dienstleistungsentgelt. Das virtuelle Kraftwerk hilft hierbei MVV Energie, dass die erzeugte Energie mit den verkauften Mengen übereinstimmt. Denn gemäß den Regeln der Stromhandelsmärkte erhöhen sich für den Direktvermarkter auch bei unerwartet wenig oder viel Windaufkommen oder nicht vorhergesehenem Sonnenschein die Kosten. Haben die volatilen Grünstromerzeuger zu wenig oder zu viel Strom ins Netz eingespeist, muss der Vermarkter entsprechende Volumen an Ausgleichsenergie auf den Strommärkten nachkaufen. Das virtuelle Kraftwerk lässt eine genaueste Überwachung aller kleinen Anlagen und damit kurzfristige Einspeiseprognosen zu.

MVV-Energie-Hochhaus 3 | MVV-Energie-Hochhaus - © Foto: MVV Energie AG
MVV-Energie-Hochhaus 3 | MVV-Energie-Hochhaus

Von dem bei MVV vermarkteten Volumen von 4,1 GW aus EEG-Anlagen, die gemäß Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) vergütet werden, gehören 177 Megawatt (MW) an Windenergie- und 50 MW an Biomasseleistung dem Energieunternehmen selbst.

Die drei Einsatzgebiete

Hinzu kommt allerdings, dass das virtuelle Kraftwerk in Zukunft mehr können soll. Zum Beispiel wird das Bilanzkreis-Management besser regelbar. Dabei müssen Energieversorger exakt so viel Strom einspeisen lassen oder aus elektrischen Speichern entnehmen, wie sie an ihre Kunden liefern. Bei einer Über- oder Unterdeckung werden ebenfalls Kosten für Ausgleichsenergie fällig. Das virtuelle Kraftwerk vereinfacht die Übersicht über diese Faktoren. Für diese Bilanzkreisregelung hilfreich ist, dass Erneuerbare-Energien-Anlagen im Notfall anders als große konventionelle Kraftwerke sehr kurzfristig auch ihre Leistung drosseln können – und wieder anfahren.

Drittens aber soll das virtuelle Kraftwerk auch einmal die Verbrauchslasten großer Industrieunternehmen regeln helfen. Wer sie kurzfristig kennt, kann die Erzeugung leichter an sie anpassen. Darüber hinaus können Industrieunternehmen für den Notfall auch ihren Stromverbrauch hoch- und runterfahren – indem sie Kältekammern früher als ursprünglich geplant oder erst später kühlen, indem sie kurzfristig auf die Eigenversorgung mit eigene Kleinkraftwerken umsteigen – oder indem sie kurzfristig gegen einen lukrativen finanziellen Ausgleich gar die Produktion leicht reduzieren.

Zusätzlich entwickelt und vertreibt das Joint Venture Beegy Produkte, das jüngst gemeinsam mit Partnern aus verschiedenen Branchen gestartet wurde. In Zukunft soll es vielleicht einmal die Verbrauchslasten von Haushalten und Gewerbebetrieben regeln lassen. Im ersten Schritt aber bietet es die Eigennutzung von Strom und Wärme aus Erneuerbare-Energien-Anlagen sowie Energieeffizienz für Kunden an. Diese Lösungen bringen MVV Energie und Beegy an den Markt, um lieber selbst daran zu verdienen als sich selbst versorgende Kunden ganz zu verlieren.

Energiewende bleibt risikobehaftet

Dass die Energiewende so gelingt, ist nicht selbstverständlich. Viele Stadtwerke verlieren nicht nur Kunden, sondern schreiben auch rückläufige Zahlen – und bei manchen sind diese Zahlen sogar rot.So schrieb auch MVV im Herbst für das gerade zu Ende gegangene Geschäftsjahr 2014/2015 zum zweiten Mal hintereinander einen deutlich zurückgegangen Umsatz von noch 3,4 nach 3,7 und über 4 Milliarden Euro. Auch der bereinigte Gewinn nach Abzug von Steuern und Abschreibungen war um eine Million auf 92 Millionen Euro zurückgegangen. Schulden seien gestiegen, flüssige Mittel hätten sich leicht verringert, ebenso die Eigenkapitalquote, hatte kein geringeres Medium als die Wirtschaftszeitung Handelsblatt moniert. Immerhin war das operative Ergebnis, also das Plus aus dem eigentlichen Geschäft zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder um fünf Millionen auf 175 Millionen Euro gewachsen.

Im Wettbewerb mit Energieversorgern vergleichbarer Größe und ähnlicher Strukturen stehen die Mannheimer gut da. 2014 betrug der Anteil grünen Stroms aus eigener Erzeugung 828 Gigawattstunden (GWh) oder 22 Prozent von 3,8 TWh. Rund 40 Prozent davon erzeugten Windparks. Die weiteren 60 Prozent kamen aus Biogasanlagen, einer Geothermie- und einigen PV-Anlagen sowie vor allem aus der Verbrennung fester Biomasse wie Altholz und einem biogenen Anteil der thermischen Abfallverwertung des städtischen Mülls in den drei Anlagen des Konzerns in Mannheim, Leuna und Offenbach. 26 Prozent der 3,8 TWh stammen aus Kraft-Wärme-Kopplung. Zum Vergleich: Die Stadtwerke im Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) hatten 2015 im Durchschnitt nur eine Erneuerbare-Energien-Kapazität in einer Größenordnung von gut 15 Prozent der Erzeugungskapazitäten unter Einschluss der konventionellen Kraftwerke. Und weil Wind- und Solaranlagen nicht so regelmäßig erzeugen, wie Kohlekraftwerke, dürfte die Quote ihrer Einspeisung noch deutlich darunter gelegen haben.

MVV Energie hat stabiles Anlegervertrauen

Bei den Anlegern auf den Finanzmärkten genießen die Mannheimer offenbar Vertrauen: Während die Aktienwerte vergleichbarer Unternehmen oder größerer Konzerne heute meist deutlich um bis zu 50 Prozent unter dem Niveau von vor zehn Jahren angekommen sind, hat MVV Energie diesen Wert gehalten.

Im Dezember erklärte MVV zum zweiten Mal seit Anfang des Jahrzehnts drei Milliarden Euro in die Transformation des Konzerns zu stecken. Das Geld solle vor allem in den Ausbau erneuerbarer Energien mit dem Schwerpunkt Windkraft, in KWK und Fernwärme sowie in die Bereitstellung neuer Dienstleistungen und Digitalisierungen fließen. Für 2016 erwartet der Konzern zudem wieder einen deutlich zunehmenden Umsatz von bis zu vier Milliarden Euro – sowie zunehmende Gewinne.

(Tilman Weber)

Lesen Sie mehr über das Thema virtuelle Kraftwerke bei kommunalen Versorgern in der Titelgeschichte der am 15. Februar erscheinenden nächsten Ausgabe von ERNEURBARE ENERGIEN! Weitere spannende Artikel berichten beispielsweise über den Reformprozess für das EEG 2016 oder über das zunehmend interessante Auslandsgeschäft der vom Turbinenbauer unabhängigen Windturbinen-Instandhaltungsunternehmen. Hier können Sie das Heft auch abonnieren – oder ein Probeheft beziehen!