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Justiz

Schnelle Windgerichte

Am 22. Februar 2008 pfiff ein Sturm über das dänische Aarhus hinweg. Er drehte die Rotorblätter einer Windmühle in immer schnelleren Umdrehungen – bis schließlich ein Rotorblatt brach. Es schlug gegen den Mast, knickte ihn wie ein Blatt Papier, und das gesamte Getriebe krachte mit voller Wucht auf den Boden – direkt neben einen dort geparkten Servicewagen, dessen Fahrer gerade die defekte Bremse repariert hatte. Verletzt wurde niemand, und so konnte sich der Vorfall ohne schlechtes Gewissen zu einem Renner auf YouTube und ähnlichen Videoplattformen entwickeln.
Wie konnte das passieren? Wurden Wartungsvorschriften verletzt, lag die Schuld beim Hersteller? Das wäre aktuell wohl ein Fall für ein Schiedsgericht. Die rechtliche Lage rund um die Windenergieanlagen ist mehr als unsicher. Denn neue Technologien führen zu neuen Fragen – auch vor Gericht. Fast jedes Urteil ist ein Präzedenzfall, die Verfahren sind wegen der komplizierten fachlichen und rechtlichen Gegebenheiten oft langwierig. Beweissicherungsverfahren bei Getriebe­schäden von Windkraftanlagen beispielsweise dauern erfahrungsgemäß drei bis fünf Jahre für eine Instanz. Nicht selten enden sie dennoch ohne ordentlichen Entscheid sondern werden schließlich außergerichtlich geregelt.

Die Bremer packen’s an


Das soll nun anders werden. Das Landgericht Bremen und das Hanseatische Oberlandesgericht haben einen Vorstoß gewagt, der Verfahren in Fragen zur Windenergie beschleunigen und vereinheitlichen soll. Dazu wurde eine bisher weltweit einmalige Sonderzuständigkeit für Zivilstreitigkeiten über Windkraftanlagen und sonstige regenerative Energien eingerichtet. Am Landgericht Bremen ist zukünftig eine Zivilkammer sowie eine Kammer für Handelssachen und am Oberlandesgericht ein Zivilsenat exklusiv für die Windenergiebelange zuständig. „Ziel ist eine besondere Kompetenz der Bremer Richter und Richterinnen“, erklärt Wolfgang Arenhövel, Präsident des Oberlandesgerichts. Gezielte Fortbildungen sollen „nah am Fall“ erfolgen, so dass die zuständigen Richter die aktuellen Probleme – von technischen Details bis zur Finanzierung – kennenlernen. „Zudem soll eine juristische Erarbeitung der Fälle gemeinsam mit der Universität erfolgen.“
„Schnellere Verfahren, sachkundige Richter und eine kalkulierbare Rechts-lage – damit wäre allen Beteiligten in solchen Verfahren geholfen“, ist auch der Bremer Anwalt Reinhard Engel über­-
zeugt. „Schiedsgrichtsentscheidungen sind toll für den Einzelnen, aber die Branche braucht richtige Entscheidungen.“

Tatsächlich ist bis heute noch nicht einmal klar, was eine Windkraftanlage überhaupt ist. Ein Bauwerk? Eine bewegliche Sache? Die rechtlichen Folgen dieser Definition, beispielsweise bezüglich der Verjährungsfristen von Gewährleistungsansprüchen, sind enorm. Die Unternehmen – ebenso wie die Versicherungen – brauchen Rechtssicherheit, und die kann und muss eine solche spezialisierte Kammer bieten. Karin Goldmann, Präsidentin des Landgerichts, unterstreicht: „Die Konzentration an einem Standort und in einer Kammer ist entscheidend, denn nur so kann sich die nötige Fachkompetenz überhaupt ausbilden.“

Soviel richterliche Kompetenz soll schließlich auch weit über die Grenzen Bremens und Deutschlands hinaus strahlen. Deutsches Recht soll möglichst internationaler Standard werden und Bremen auch auf internationalem Parkett zum gerichtlichen Anlaufpunkt der Windener-giebranche machen. Perspektivisch träumt wohl der eine oder andere schon von Zuständen wie am Internationalen Seegerichtshof in Hamburg, mit speziellen Schnellverfahren und exterritorialen Verhältnissen. Auch wenn das, so der frischgekürte Windenergie-Richter Michael Brünjes, wohl eher eine Sache der folgenden Generation sei. Zunächst soll es genügen, Richter mit ausreichenden Fremdsprachenkenntnissen und möglichst umfassendem Fachwissen bereitzustellen, um „Law made in Germany“ zu vertreten.

Wirtschaftliche Interessen


Der deutsche Windenergiemarkt ist lange seinen Kinderschuhen entstiegen, befindet sich aber weiterhin im Wachstum. Mehr als 950 Windenergieanlagen mit einer Leistung von beinahe 2000 Megawatt (MW) wurden 2009 in Deutschland errichtet. Erstmals tauchen bei der Vorstellung der Statistik der neu installierten Windleistung, die das Deutsche Wind­energie-Institut (DEWI) jährlich aufbereitet, auch 60 Megawatt Offshoreleistung auf, 300 weitere sollen es im kommenden Jahr werden. Die Bundesregierung geht in ihrer Offshore-Strategie davon aus, dass bis zum Jahr 2030 25.000 MW Windkraftleistung vor Deutschlands Küste realisiert werden können. Trotz technischer Widrigkeiten lockt das die Hersteller und bedeutet gerade für Deutschland einen gewaltigen Wirtschaftsfaktor. Immerhin stammt weltweit jede vierte Windenergieanlage aus der Bundesrepublik.

So sieht Wolfgang Arenhövel die Einrichtung einer gerichtlichen Sonderzuständigkeit für den Bereich Windenergie im Land Bremen auch als logische Reak­tion auf die wirtschaftliche Entwicklung in der Region. Niedersachsen gehört neben Schleswig-Holstein zur windstärksten Region Deutschlands. Zahlreiche Windenergiefirmen siedeln in und um Bremen und Bremerhaven. Vor der niedersächsischen Insel Borkum wird der erste deutsche Offshore-Windpark Alpha Ventus betrieben. Und erst im Mai dieses Jahres wählte RWE Innogy Bremerhaven als seinen Offshore-Basishafen für die Errichtung ihres Windparks Nordsee Ost aus.

Doch nicht nur die wirtschaftlichen Voraussetzungen sind gut. Positive Rückwirkungen sind Teil der Bremer Strategie. Die Spezialzuständigkeit könnte weitere Unternehmen aus der Windenergie­branche in die Region locken – und mit ihnen Prestige, Arbeitsplätze und Unternehmenssteuern. Außerdem stehen die Chancen gut, dass auch überregionale Verfahren in Bremen verhandelt werden. Ein besonderes Zuckerl, denn Verfahren um hohe Streitwerte, wie sie bei Windkraftanlagen nicht unüblich sind, bringen auch hohe Gerichtsgebühren. Außergerichtliche Vereinbarungen bergen wieder andere Vorteile. Denn wenn die Bremer Richter auch als Schiedsrichter fungieren, wird dies gesondert honoriert.

Unternehmen sind verhalten


Der Plan scheint gut. Richter und Anwälte sind sich einig, dass das Unterfangen für keinen Beteiligten Nachteile birgt. Ob die betroffenen Unternehmen die Bremer Euphorie teilen, muss sich allerdings noch zeigen. Die Bedeutung der Sonderzuständigkeit für die Branche sei momentan schwer einschätzbar, erklärt Daniel Müllhäuser, stellvertretende Geschäftsführerin der Windenergie Agentur Bremerhaven (WAB). Die Firma Nordex, Anlagenbauer mit Sitz in Rostock und Norderstedt, die vor einigen Jahren mit kaputten Rotorblättern von sich reden machte, möchte erstmal abwarten und sich vorerst nicht zum Thema äußern. Gleiches gilt für den dänischen Windradbauer Vestas.

Der Bremer Anwalt Thomas Heine­ke ist gerade für den Offshorebereich skeptisch, ob Bremen tatsächlich deren Anlaufpunkt bei Streitigkeiten werden wird. „Bislang wurden hier ausschließlich Schiedsvereinbarungen getroffen. Die Branche ist sehr international, verschiedenste Unternehmensstrukturen treffen aufeinander. Und gerade die großen Unternehmen scheuen häufig die öffentliche Bühne“, so Heineke.

Abwarten, was kommt


Bislang wurde noch kein Fall vor dem Bremer Windenergiegericht verhandelt, sind die Richter noch damit beschäftigt, sich die vielgelobte Fachkompetenz anzueignen. Bislang drückten sie die Schulbank, allerdings nur auf der Offshore-Windenergie-Konferenz, die Anfang Juni in Bremerhaven stattfand. Die Aufmerksamkeit der zuständigen Juristen für das Thema ist geschärft, zielgerichtete Schulungen sind aber bislang nicht in Aussicht.

Vor dem Landgericht sind aktuell etwa 30 Verfahren anhängig. Von einer Zunahme der Fallzahlen seit der Einrichtung der neuen Sonderzuständigkeit ist dem zuständigen Pressesprecher nichts bekannt. Vorrangig handelt es sich um Fragen der Mangelgewährleistung. Knickende Windkraftanlagen und losgelöste Rotorblätter – das sind nur die wenigen medienwirksamen Fälle. Viel häufiger geht es um den Teufel im Detail. Was passiert beispielsweise, wenn eine Windkraftanlage ihre Leistungskurve nicht einhält? Wie steht es um Garantien? Und wer ist schuld, wenn der Wind nicht bläst?

Der spektakuläre Kniefall der däni­schen Windkraftanlage jedenfalls gelangte tatsächlich nie vor Gericht. Der Servicetechniker, der die Anlage trotz des Sturms leichtfertig in Betrieb genommen hatte, bekam firmenintern die Leviten gelesen. Das hätte wohl kein Bremer Spezialgericht besser gekonnt.

Fanni Aspetsberger