Tilman Weber
Innovation Nr. 1: 15-Megawatt-Referenzturbine
Sieben Jahre war es her, dass Dänemarks führende Technische Universität DTU bei Kopenhagen eine generische Zehn-Megawatt-Windturbine entworfen und mit allen Designinformationen veröffentlicht hatte. Im März 2020 legten das amerikanische Erneuerbare-Energien-Forschungsinstitut NREL in Zusammenarbeit unter anderem mit der DTU mit dem Konzept einer 15-MW-Anlage nach. Die Referenz-Windturbine IEA 15 MW ist eine rein virtuelle Anlage. Sie ist speziell für Offshore-Standorte entwickelt – wird aber so nie gebaut werden. Nach mehreren Monaten eigentlicher Entwicklungszeit präsentierten die Entwicklungspartner im März ihre Daten: getriebelos, 240 Meter Rotordurchmesser, eine Nabenhöhe von 150 Metern, eine Rotationsgeschwindigkeit von fünf bis 7,5 Umdrehungen pro Minute oder etwa eine Blattmasse von 65 Tonnen.Die öffentlich zugänglichen Daten sollen die Zusammenarbeit von Technologie-Entwicklungspartnern in der Wertschöpfungskette künftiger Windenergieanlagen ermöglichen.
Im Einzelnen können diese Daten so beispielsweise frühzeitig sichtbar werden lassen, welche Lasten künftige Unterwasserfundamente tragen müssen. Auch der Installationsprozess künftiger Offshore-Windturbinen lässt sich mit dem IEA-15-MW-Modell vorausplanen. Ebenso macht das virtuelle Modell eine staatliche Raumplanung künftiger Meereswindparkbaugebiete möglich. Und Wissenschaftler können neue Flügelprofile entwerfen, indem sie sich auf die übrigen Anlagendaten und vorgegebene Belastungswerte stützen.
Die Turbine ohne Getriebe ähnelt in den groben Dimensionen dem Vorbild der real durch Windturbinenhersteller Siemens Gamesa geplanten Offshore-Anlage mit 15 MW Nennleistung und 222 Meter Rotordurchmesser. Der Gruppenleiter für Gesamtanlagendynamik am Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme (Fraunhofer Iwes), Philipp Thomas, benennt den Wert des Datensatzes für Simulationen und Kon-
struktionstests: Die Branche benötige in regelmäßigen Abständen neue digitale Anlagenmodelle als frei verfügbare Datensätze. Weil die Windturbinenhersteller selbst ihre Datensätze verschlossen halten, sei die virtuelle Musteranlage wichtig für Weiterentwicklungen der Turbinentechnologie auf einer breiten Basis.
Die Leiterin der Abteilung an der DTU für Lasten und Steuerung, Katherine Dykes, nennt die Modellturbine eine fortlaufende Entwicklung: Mit inhaltlichen Erweiterungen wie der Berechnung eines Fundamentes für schwimmende Offshore-Windturbinen werde die Branche in kommenden Jahren die generische Anlage fortentwickeln und Varianten von ihr schaffen, sagt Dykes. Ein großes Gebiet für die weitere Forschung mit der virtuellen Modellanlage sei ihrer Meinung aber auch, die wirklich beste Drehgeschwindigkeit des Rotors zu erforschen.
Innovation Nr. 2: Schwimm-Windenergieanlage Nezzy²
Können zwei eng benachbarte Windturbinen mit in einer Ebene, aber gegenläufig drehenden Rotoren mehr Strom erzeugen, als zwei sauber distanzierte Anlagen im klassischen Windpark? Sind zwei Turbinen auf einem gemeinsamen Schwimmfundament kostengünstiger als eine doppelt so leistungsstarke Meereswindkraftanlage? Sinken die Kosten weiter, wenn eine Anlage nicht wie üblich ihr Maschinenhaus in den Wind ausrichtet, sondern das Schwimmfundament sie in die Windströmung dreht? Kommen diagonal statt senkrecht aufgestellte Schwimmturbinen dank einer Drahtseilverspannung mit derselben Masse aus wie in den Seebeboden eingebaute Anlagen?
All diese Fragen bejaht das gemeinsame Entwicklungsprojekt Nezzy² des Technologie-Entwicklungsunternehmens Aerodyn Engineering und des Energiekonzerns EnBW. Ein 1:10-Modell des Turbinenzwillingspaares mit 18 Meter Nabenhöhe schwimmt seit dem Frühjahr in einem Baggersee nörlich der Wesermündung. Es ist der Vorbote einer Doppelturbine, die zusammen rund 15 Megawatt (MW) erzeugen können soll. Die 10 mal 10 Meter Navigationsfläche abdeckende, geflutete und Y-förmige Schwimmerstruktur besteht aus Betonfertigbauteilen, an deren äußeren Enden und in deren Mittelpunkt jeweils Säulen senkrecht aus dem Wasser ragen. Die Turbinen fußen abgespreizt voneinander auf der Mittelsäule. Drahtseile verspannen sie auf Höhe der Maschinenhäuser miteinander und je einzeln mit den Schwimmkörpersäulen.
Der Baggerseetest unter technischer Oberaufsicht des Nezzy²-Erfinders Sönke Siegfriedsen zielte auf die Windausrichtung durch den Schwimmkörper. Für August war die Errichtung einer Kopie des Modells im seichten Greifswalder Bodden in der Ostsee geplant, um die Schwimmkünste in den Wellen zu verfeinern. Noch stehe die Behördengenehmigung aus, hieß es Ende Juli.
Er erwarte „einen Verdichtungseffekt der Strömung zwischen den Anlagen, der zur Leistungs- und Ertragssteigerung führt“, erklärt Siegfriedsen. Dieser Effekt könne die Stromerzeugung vielleicht um zwei Prozent erhöhen. Zudem zählt Siegfriedsen durch die Kombination zweier Anlagen der Sieben- bis Acht-MW-Klasse einen weiteren Punktgewinn: Sie bringe die „Vorteile der kostengünstigen Serienfertigung einer erprobten Anlagengröße mit den geringeren Installationskosten der 12 bis 15 MW“ auf einem einzigen Fundament zusammen.
Der Prototyp aus zwei 7,5-MW-Anlagen soll spätestens Anfang 2022 in China in See stechen. Dank der ausgleichend aufeinander abgestimmten intelligenten Steuerung beider Anlagen und der Drahtseilabspannung soll die Nezzy-Technologie unüblich für schwimmende Anlagen mit derselben Turmmasse auskommen wie klassisch in den Seeboden gerammte Turbinen – weil die Seile die Beschleunigungskräfte ableiten.
Innovation Nr. 3: Polyurethanharz-Blätter
Das erste komplett mit Polyurethanharz ausgehärtete Rotorblatt für eine moderne Windenergieanlage ist 64,2 Meter lang und wird wohl an einer Turbine des chinesischen Herstellers Goldwind den Testbetrieb aufnehmen. Nach zehn Jahren Forschung, eingeleitet 2009 durch eine Förderung des US-Energieministeriums, präsentierte der Leverkusener Kunststoffproduzent Covestro nun das Pilotrotorblatt: Zusammen mit Goldwind und Rotorblattbauer LZ Blade – dem früheren Sinoi – will Covestro noch 2020 die Kleinserienproduktion starten.
Mit dem Kunstharz Polyurethan ersetzen die Entwicklungspartner die in der Rotorblattfertigung üblichen aushärtenden Verbindungsstoffe wie das zumeist genutzte Epoxid- oder auch Polyesterharz. Das übliche Fertigungsverfahren besteht im Ablegen von Glasfaserlagen in riesigen Blattfertigungsschablonen und anschließender Durchtränkung der Fasern mit dem Harz. Üblicherweise erzeugen die Produzenten ein Vakuum in den Schablonen, dessen Luftunterdruck den Infusionsharz in die Glasfaserschichten einziehen lässt. Unter gezielt erhöhten Produktionstemperaturen reagiert das Material zum Glasfaserkunststoff (GFK) und härtet als mehrere Zentimeter dicke Blattschale aus. Das Verfahren mitsamt Aushärtung dauert 24 Stunden.
Polyurethanharz lässt offenbar diese Dauer deutlich verkürzen. Und es hat materielle Eigenschaften, die zu einer besseren Elastizität der Blätter und zu höherer Widerstandsfähigkeit der Blattwände führen. Auch Kräftescherungen halten mit Polyurethanharz gehärtete GFK besser stand. Solche treten an Rotorblättern auf, die sich unter Last leicht verdrehen. Weil natürlich bisherige Epoxidharzflügel schon Zug, Druck oder Scherungen standhalten mussten, glichen die Designer deren Ermüdungskräfte mit größeren Wandstärken aus.
Wie sehr das neue Material an Fertigungszeit, Gewicht und daher Kosten spart, erklärt Covestro in einer Broschüre. Die Wirkungen betreffen zunächst die Fertigung: Eine um bis zu fünffach tiefere Anfangsviskosität – also eine viel geringere Zähflüssigkeit – von 58 Millipascalsekunden (mPas) im Vergleich zu den 200 bis 300 mPas der Epoxidharze lässt das Polyurethanharz schneller einziehen. Es entwickelt auch weniger Prozesswärme: eine Nebenerscheinung beim Aushärten, die mit technischen Maßnahmen begrenzt werden muss. Noch nach der Mischung aus seinen Bestandteilen ist Polyurethanharz mehr als zwei Stunden lang wenig zähflüssig. Dagegen härtet das Blatt nach Vakuuminfusion und Erwärmung auf 80 Grad Celsius schon nach vier Stunden fast vollständig aus.
Dank der erhöhten Stabilität des Blattes hatte Covestro in Zusammenarbeit mit dem Berliner Rotorblattdesign-Unternehmen Windnovation die Stärke des tragenden Gurtes in den Blattschalen in dem besonders viel Last tragenden Bereich nahe der Blattwurzel verringern können. So lasse sich rechnerisch das Gewicht der Blätter mitsamt Rotornabe um fünf Prozent reduzieren, betont Frank Rothbarth, Sprecher bei Covestro. Ohne Designanpassung spare der bloße Wechsel zum Polyurethanharz noch 1,1 Prozent des Gewichts ein.
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Diese Innovationen sind unserem Print-Magazin 6/2020 entnommen. Hier erhalten Sie ein kostenloses Probeheft unserer nächsten Ausgabe.