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Energiesystemwende

Kommentar: "Orientierungslose Energiepolitik"

Philipp Blechinger und Fabian Zuber

Die Bundesregierung und die Bundesländer haben am 17. Juni 2020 einen Grundsatzbeschluss zur Umsetzung der Energiewende gefasst. Diesem Beschluss sind monatelange Abstimmungsprozesse vorangegangen und er kann als ein wichtiger Meilenstein in der politischen Konsensfindung zur weiteren Gestaltung des Energiesystems gesehen werden. Daher lohnt sich ein vertiefter Blick auf die energiepolitischen Vorhaben und Zielsetzungen. Doch so viel vorweg: Die Erkenntnisse sind ernüchternd. Die deutsche Energiepolitik ist konzept- und orientierungslos. Es wird weiterhin nur an dem alten System herumgedoktert und versucht die Erneuerbaren „zu integrieren“, anstatt mutig ein komplett neues System zu denken und den Pfad dahin zu gestalten.

Perspektive der Vergangenheit

Grundsätzlich stellen die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Bundesländer in ihrem gemeinsamen Papier zu Recht fest, dass „die Energieversorgung in Deutschland sich in einem tiefgreifenden Umstrukturierungsprozess befindet“. Allerdings verpassen sie es aufzuzeigen, wie das Zielmodell dieser Umstrukturierung aussehen soll und verharren stattdessen in ihrer Denk- und Argumentationsweise in den Grenzen des konventionellen Energiesystems der fossil-nuklearen Zeit. Wie sehr diese politische Haltung aus einer Perspektive der Vergangenheit geprägt ist, zeigt sich an vielen Formulierungen und grundsätzlichen Einschätzungen, die in dem vorgelegten politischen Programm zu Tage treten. Das erneuerbaren Energiesystem bringt jedoch ganz neue Anforderungen mit sich, die es gezielt anzupacken und die damit verbundenen Chancen zu ergreifen gilt. Aber genau für den nötigen Umbau des Energiesystems sucht man stringente Konzepte und Antworten vergeblich. Hier einige Beispiele:

Ohne Ziele kann man nichts erreichen

Der Bundeskanzlerin und ihrer Bundesregierung fehlt der Mut, das Zielszenario des erneuerbaren Energiesystems, wie auch die Zwischenschritte dorthin, klarer zu benennen. So scheut die Politik jegliche Festlegung auf eine klare Vision eines 100% EE-Systems sowie auf einen zukünftigen Strombedarf und verhindert gleichzeitig auf diesem Wege, den Menschen und Unternehmen einen klaren Entwicklungshorizont zu präsentieren. Es ist ein energiepolitisches Armutszeugnis, wenn sich die Politik wiederholt darauf beschränkt, „möglichst frühzeitig Trends in der Entwicklung des Strombedarfs zu identifizieren“, es aber verpasst, schon heute konkret zu werden und die Ausbauziele für erneuerbare Energien zu benennen. Durch dieses Nicht-Handeln wird eine große Chance vertan, eine konsistente Energiepolitik zu gestalten und den Menschen und Unternehmen so Orientierung zu geben.

Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit als vermeintliche Drohungen

Eine weitere Auffälligkeit ist, dass in dem Beschluss gleich an mehreren Stellen fast schon krampfartig die Leitziele der Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit in den Vordergrund gerückt werden. Gleich zehn Mal wird an die Maxime der Versorgungssicherheit erinnert. Sieben Mal ist die Rede davon, dass es der Kosteneffizienz bedarf bzw. dass die Wettbewerbsfähigkeit nicht gefährdet werden dürfe. Die Umweltverträglichkeit schafft es hingegen auf ganze drei Nennungen. Niemand stellt in Frage, dass diese Prinzipien als Mindeststandards des deutschen Energiesystems gelten müssen – in Vergangenheit ebenso wie in der Zukunft. Gleichwohl gewinnt man den Eindruck, dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländervertreterinnen und -vertretern sich wiederholt selbst davor ermahnt, zu große Sprünge zu machen – anstatt aufzuzeigen, wie die Transformationen chancenbetont gelingen kann – auch im Sinne einer hohen Resilienz, Innovationen und einer wettbewerbsfähigen Exportwirtschaft im Bereich der Zukunftstechnologien. Und mehr noch: Das erneuerbare Energiesystem ist kleinteilig und rückt näher an die Menschen heran. Fünf Mal erinnern die Autoren daran, dass es Akzeptanz brauche, lassen jedoch die soziale Dimension der Energiewende fast ganz außen vor.

Reflexhafte Fixierung auf Netze und den neuen Liebling Wasserstoff

Wer den Diskurs der aktuellen Bundesregierung seit der Formulierung des Koalitionsvertrags verfolgt, den verwundert es wenig, dass sich die Fixierung auf den Ausbau der Stromnetze wie ein Leitmotiv durch das Beschlusspapier zieht. Ganze zehn Mal wird in der üblichen, reflexartigen Begleitkommunikation des Konventionellen Energiesystem daran erinnert, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien an das Vorhandensein von Netzen geknüpft ist. Energiespeicher werden – so die Autoren – „neben weiteren Flexibilitätsoptionen zunehmend an Bedeutung gewinnen“, bleiben in diesem Duktus aber erstmal allgemeine Vorhaben und Zukunftsmusik.

Ganz anders steht es da um den neuen Liebling „Wasserstoff“, den manche Energiemarktexpert*innen auch als den „Champagner der Energiewende“ bezeichnen. Ganze 14 Mal taucht der Begriff auf, verbunden mit fast schon feierlichen Ankündigungen und Erfolgsversprechen und vor allem dem Ausdruck eines starken Willens: Konkret ist die Rede von einem „zügigen Markthochlauf“ und „einer starken inländischen Produktion“, „neuen Wertschöpfungspotenzialen“ sowie einer „zügigen Umsetzung“ und einer „wichtigen Rolle“ und von „aufbauen“ und „intensivieren“.

War da was? Soll die erneuerbare Energiewende nicht vor allem aus neuen Solar- und Windkraftwerken gespeist werden? Nun, die Windenergie an Land und die Photovoltaik schaffen es zusammen immerhin halb so oft wie der Wasserstoff ins Beschlusspapier – oftmals verbunden mit problemorientieren Aussagen. Hier muss zudem aufgepasst werden, dass „Wasserstoff-ready“ nicht zum neuen Feigenblatt für fossile Kraftwerke wird. Analog zur CCS-Technologie könnte sonst Wasserstoff als möglicher, sauberer Brennstoff der Zukunft zur Ausrede für den Neubau und Betrieb fossiler Kraftwerke im Jetzt werden.

Strukturelles Korsett des alten Energiesystems erlaubt nur „Anpassungen“

Wie sehr die Politik derzeit im strukturellen Korsett des alten Energiesystems gefangen ist, zeigt sich vor allem in Hinblick auf die Vorhaben der Sektorkopplung und beim Ausbau der Erneuerbaren Energien bis 2030. Aus der vorausgeschickten Ansage, einer nötigen „Umstrukturierung“ wird hier eine ambitionslose „Anpassung“, gleichwohl der Ausbau ganz offensichtlich an systemische Grenzen stößt. So heißt es etwa, dass die regulatorischen Rahmenbedingungen „sukzessive an die Erfordernisse einer effizienten, nachhaltigen Sektorkopplung anzupassen“ sind. In Wirklichkeit ist allerdings mehr nötig als eine Anpassung der bestehenden Regularien. Vielmehr geht es darum, Sektorkopplung, Speicher und andere Flexibilitätsoptionen als Elemente eines neuen Energiesystems von Grund auf neu zu etablieren und möglich zu machen. Wenn hier wirklich ein Wandel gewünscht wäre, wäre eine positiv besetzte „Wasserstoff-Rhetorik“ eher angebracht, als eine Vertagung von konkreten politischen Maßnahmen in die Zukunft.

Ausbau der erneuerbaren Energien – konzeptlos und rückwärtsgewandt

Mühsam wird es hinsichtlich der Vorhaben beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Mal wieder soll dieser „beschleunigt“ und „verbessert“ werden, und sodann werden von den Autorinnen und Autoren Themen vom Wiedervorlage-Stapel genommen und weitere Prüfverfahren in Aussicht gestellt, meist ohne, dass detaillierte Maßnahmen vorgeschlagen werden. Die Regionalisierung, eine stärkere finanzielle Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Kommunen, Repowering und Mieterstrom, Ausbauziele bis 2030 – all das sind seit vielen Jahren offene Baustellen, die von der Energiepolitik kaum wirksam vorangebracht werden. Es fehlen offenbar Ideen, Mut und Wille. Aber auch die Bereitschaft, strukturelle Konflikte anzuerkennen und dauerhaft zu überwinden. Das Narrativ hier ist ein „kann“ und „nach 2030“ – ohne dass aufgezeigt wird, auf welches Ziel zugesteuert werden soll.

Besonders eklatant wird dieser Punkt deutlich, wo es um die Ermöglichung der Eigenstromproduktion geht. So soll die Förderung selbiger an die Bedingung geknüpft werden, dass dies nicht zu einer „Entsolidarisierung“ bei der Finanzierung der Netzinfrastruktur und Energiewende führen dürfe. Hier werden dezentrale Versorgungsmodelle, die im Zuge steigender Strombedarfe und zur Entfesselung von Sektorkopplung und dem EE-Ausbau für die regionale und lokale Verknüpfung von Erzeugung und Verbrauch alternativlos sind, in Geiselhaft eines antiquierten Entgeltesystems genommen – anstatt sich vorzunehmen, dieses System umzubauen und zukunftsfähig zu machen. Anders formuliert: Solidarisch ist, wer in klimafreundliche Technologien investiert, die Dekarbonisierung von Mobilität und Wärme ermöglicht und sich überdies netzdienlich verhält. Und die Aufgabe der Politik ist es, den Menschen und Unternehmen diese Solidarisierung zu ermöglichen – auch indem sie Entgelte und Umlagen verursachergerecht neu staffelt.

Zeit für einen neuen Aufbruch

Anstelle einer Politik, die in veralteten Denkmustern verharrt und den strukturellen Beharrungskräften Vorfahrt gibt, braucht es energiepolitische Konzepte, die den Anforderungen der neuen Energiewelt gerecht werden und die kraftvoll und überzeugend mit klaren Zielen den Weg in die nahe Zukunft weisen. Die Bundeskanzlerin und ihre Regierung dirigieren die Energiepolitik aber ohne Orientierung und Vision. Sie gibt keine klaren Antworten, wie die Energiesystemwende gelingen kann und die Energiewende so tatsächlich umgesetzt werden soll. Zeit für einen Neuanfang.

Über die Autoren:
Philipp Blechinger ist Bereichsleiter Off-Grid Systems am Reiner Lemoine Institut und Leiter des Graduiertenkollegs der Reiner Lemoine Stiftung. Fabian Zuber koordiniert als Leiter der Plattform EnergieSystemWende die Projekte der Stiftung und die Öffentlichkeitsarbeit. Er ist seit 2005 u. a. als Berater und Unternehmer für die Energiewende aktiv – etwa für ComMetering, First Solar, Deutscher Bundestag, und Bündnis Bürgerenergie. Weitere Beiträge aus der Kolumne EnergieSystemWende der Reiner Lemoine Stiftung finden Sie hier.

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