Untersuchungen im AKW Neckarwestheim‑2 haben laut Ausgestrahlt im Juni 2022 zum sechsten Mal in Folge Korrosionsschäden in den Dampferzeugern aufgedeckt. Damit wurden inzwischen an mehr als 350 Rohren zum Teil tiefgehende und lange Risse nachgewiesen. Die Ursache der Risse sei bis heute nicht behoben. Es bestehe daher noch immer die akute Gefahr, dass weitere Risse entstehen und wachsen – bis dahin, dass die Rohre spontan bersten oder abreißen können. Dies haben laut Ausgestrahlt unter anderem auch zwei vom Umweltministerium Baden-Württemberg selbst beauftragte Gutachter bestätigt. Reaktorsicherheitsexpert*innen warnen, dass schon ein Bruch nur eines einzigen der mehr als 16.000 dünnwandigen Rohre einen Störfall bis hin zur Kernschmelze auslösen könne.
Zwei aktuelle staatliche Gutachten bestätigen also die langjährigen Vorwürfe von Ausgestrahlt: Anders als von der Atomaufsicht behauptet sind demnach spontane Rohrbrüche aufgrund der systematischen Korrosion im AKW Neckarwestheim-2 nicht ausgeschlossen. Gemeinsam mit Anwohner*innen des AKW und unterstützt vom Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar (BBMN) hat Ausgestrahlt deshalb am 08.06.21 einen Eilantrag beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim gestellt, den Betrieb des Reaktors wegen der von ihm ausgehenden akuten Gefahr bis auf Weiteres zu untersagen.
Umweltministerium und EnBW zögerten eine Entscheidung des Gerichts mit immer neuen Fristverlängerungen und Anträgen zehn Monate lang hinaus. Inhaltlich hingegen habe man den wesentlichen Argumenten von Ausgestrahlt nichts entgegensetzen können.
EnBW räumt stattdessen sogar laut Ausgestrahlt ein, die 2018 entdeckten besonders tiefen Risse auf eigene Faust und nach einer selbst erfundenen Methode in unkritische flache Risse umgerechnet zu haben. Nur für diese fiktiven, flachgerechneten und daher auf dem Papier ungefährlichen Risse habe der Konzern dann den angeblichen „Sicherheitsnachweis“ erbracht. Das Umweltministerium wiederum stuft das von EnBW zum Flachrechnen tiefer Risse angewendete Verfahren inzwischen selbst als „nicht sachgerecht“ ein. Den darauf fußenden angeblichen Sicherheitsnachweis halte es derweil weiterhin für gültig. Eine Nachüberprüfung der Rissmessdaten, von EnBW aufgrund der Klage in Auftrag gegeben, habe ergeben, dass die tiefsten und längsten Risse real zum Teil deutlich tiefer waren, als für den angeblichen „Sicherheitsnachweis” 2018 angenommen.
Darüber hinaus sei in diesem Zusammenhang herausgekommen, dass das angewandte Messverfahren die Risstiefe nur mit einer Genauigkeit von ±10% der Wandstärke bestimmen könne. EnBW habe diesen Messfehler entgegen aller Sicherheitsregeln verschwiegen und ignoriert. Weder der TÜV noch die Atomaufsicht hätten dies bemerkt oder daran Anstoß genommen.
Erst aufgrund der Klage habe EnBW nachträglich weitere Rechenmodelle vorgelegt. Diese seien irreführend von einer mehr als dreimal so dicken Restwandstärke der Rohre aus wie tatsächlich gemessen ausgegangen, könnten die angebliche Tragfähigkeit der Rissrohre also ebenfalls nicht belegen.
Der VGH Mannheim hat laut Ausgestrahlt den Eilantrag im Juni 2022 ohne eigene Prüfung der Sachfragen abgewiesen und erlaubt, den Reaktor weiter auf Verschleiß zu fahren. Das Hauptverfahren sei weiter anhängig und noch nicht entschieden.
Ein Gutachten des Reaktorsicherheitsexperten Dipl.-Ing. Dieter Majer, Ministerialrat a.D. und ehemals einer der höchsten Atomaufseher im Bundesumweltministerium, erhebt laut Ausgestrahlt schwere Vorwürfe gegen die dem grünen Umweltministerium in Stuttgart unterstellte Atomaufsicht. Die angeblichen Sicherheitsnachweise, mit denen die Behörde den Weiterbetrieb des Riss-Reaktors rechtfertigt, fußten auf falschen Grundlagen. Für derlei Nachweise zwingend notwendige Voraussetzungen seien in Neckarwestheim nicht gegeben. Die Nachweise, so Majer, seien daher fehlerhaft und nichtig, der Reaktor wegen akuter Gefahr für die Bevölkerung umgehend vom Netz zu nehmen. Das SWR-Politmagazin "Zur Sache Baden-Württemberg" machte die Vorwürfe in seiner Sendung am 04.03.2021 öffentlich. (nw)