Katharina Wolf
Blindflug, Intransparenz, gravierende Fehlentwicklung: Ein jetzt von der Agora Energiewende veröffentlichtes Papier „Netzentgelte 2019: Zeit für Reformen“ spart nicht mit Kritik am System der Stromnetzentgelte. So rechnen die Wissenschaftler der Berliner Denkfabrik 2019 mit steigenden Kosten für Verbraucher zwischen 1,5 und zwei Milliarden Euro. Die Netzentgelte könnten schon bald der größte Einzelposten auf der Stromrechnung sein und die EEG-Umlage überholen. Gleichzeitig sei überhaupt nicht klar, wofür die 24 Milliarden Euro, die jährlich gezahlt werden, genau ausgegeben werden. Eine Steuerung durch die Politik sei derzeit nicht möglich, so Agora, und empfiehlt daher eine umfassende Reform der Netzentgelte.
Umwidmung der Offshore-Umlage verschleiert Kostensteigerung
Als Beispiel für eine solche Fehlsteuerung nennt das Papier die umgewidmete Offshore-Umlage. Ursprünglich als Haftungsumlage eingeführt, wurde sie mit dem Netzentgeltmodernisierungsgesetz (NEMoG) zur Umlage für die Offshore-Netzanbindung. Laut Agora würden so Kosten in Höhe von 1,7 Milliarden Euro nun nicht mehr über die Netzentgelte, sondern über diese neue Umlage finanziert. Daher blieben die Netzentgelte auf den Preisblättern der Netzbetreiber zwar oft konstant, die Netzkosten für die Verbraucher steigen aber 2019 trotzdem um etwa 6 bis 8 Prozent – kaschiert mit der neuen Umlage.
„Wir brauchen neue Netze“, schlussfolgert Dr. Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende und einer der Autoren der Studie. „Aber die Netzkosten und die Netzentgelt-Struktur sind derzeit so intransparent, dass es de facto unmöglich ist, Netzausbau und Netzkosten effizient zu regulieren. Dabei wird das bald der größte Kostenpunkt des Stromsystems werden.“
Vier Erste-Hilfe-Maßnahmen
Die Autoren schlagen in dem Papier einen Grün- und Weißbuchprozess vor, in dem die Probleme der Netzentgelte zunächst analysiert, anschließend systematisch bearbeitet und schließlich aufgelöst werden.
Dieser Prozess dürfte allerdings Jahre in Anspruch nehmen. Die Autoren des Papiers schlagen daher eine Reihe schnell umsetzbarer Erste-Hilfe-Maßnahmen vor. Die vier wichtigsten:
die Herstellung vollständiger Transparenz über Aufkommen und Verwendung der Netzentgelte,
das Abschaffen von Anreizen für einen möglichst gleichmäßigen Stromverbrauch, die aktuell verhindern, dass große Stromverbraucher ihre Nachfrage nach Angebot und Preis an der Strombörse richten,
die Sicherung niedriger Grundpreise für Kleinverbraucher, um dem Trend zu immer höheren Grundpreisen für die Netznutzung entgegenzuwirken,
die Einführung von flexiblen Netzentgelten für neue Verbraucher wie Elektroautos und Wärmepumpen, damit sich der Stromverbrauch flexibel an die aktuelle Belastung der Stromnetze anpasst.
Netzentgelte ohne Konzept
„Die Regeln über die Netzentgelte sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten aufgrund vieler einzelner Änderungen immer verworrener geworden, von einem in sich schlüssigen Konzept sind sie weit entfernt“, analysiert Thorsten Lenck, Projektleiter von Agora Energiewende und einer der Autoren des Papiers. „Wir sehen zahlreiche Ausnahmen, uneinheitliche Regelungen und große Transparenzdefizite, die aktuell sogar verhindern, dass Wissenschaft und Forschung ein durchdachtes Modell erarbeiten können. Dabei wäre genau das dringend nötig, um sowohl die zunehmenden Mengen von Strom aus erneuerbaren Energien zu möglichst geringen Kosten ins Netz zu integrieren als auch die zusätzliche Stromnachfrage von Elektroautos und von Wärmepumpen zu befriedigen, ohne dafür die Netze mehr als nötig auszubauen“, sagt Lenck. „Es ist daher notwendig, die Kriterien entlang derer die Netzentgelte erhoben werden, von Grund auf neu zu definieren.“
Zentrale Frage: Welchem Ziel dienen die Netzentgelte?
Oberste Priorität habe dabei die Beantwortung der Frage, welchem Ziel die Netzentgelte prioritär dienen sollten: einem effizienten Stromsystem, einer möglichst gerechten Verteilung der Netzkosten auf die Netznutzer oder einer möglichst gerechten Zahlung der Netzkosten durch die Verursacher von neuen Netzausbaumaßahmen. Wichtig sei gleichfalls, Transparenz über die Kosten der Stromnetze bei den rund 900 Netzbetreibern in Deutschland und den von ihnen erhobenen Netzentgelten herzustellen. Das könnte beispielsweise die Kosten für den Netzbetrieb einerseits und die Investition in Netzausbau für Wissenschaft und Politik unterscheidbar machen. Auch die Beteiligung von Stromerzeugern an Netzkosten sowie ein bundesweiter Ausgleich der regionalen Verteilnetzkosten, die sich durch die Energiewende sehr unterschiedlich entwickeln, stehen – neben weiteren Punkten - auf der Diskussionsliste.