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Systemdienlich, direkt, viel

Tilman Weber

Unbehagen übers Verhandlungsergebnis will die profilierte sozialdemokratische Energie- und Klimaschutzpolitikerin Nina Scheer zumindest in einem Punkt nicht verbergen. Elf Tage, nachdem 16 Untergruppen von Fachpolitikern aus SPD und CDU/CSU ihre Teilergebnisse zum Sondierungsergebnis zusammengefasst und einer gemeinsamen Steuerungsgruppe übergeben hatten, Anfang April, warnte die Bundestagsabgeordnete vor einem Kleinrechnen des Strombedarfs. Sie bezieht sich auf ein vereinbartes Monitoring, „mit dem bis zur Sommerpause 2025 der zu erwartende Strombedarf sowie der Stand der Versorgungssicherheit, des Netzausbaus, des Ausbaus der erneuerbaren Energie, der Digitalisierung und des Wasserstoffhochlaufs als Grundlage der weiteren Arbeit überprüft wird“.

„Wer künftige Strombedarfe in der Prognose nach unten korrigiert, obwohl sie mit der Wärme- und Verkehrswende sowie über grünen Wasserstoff deutlich steigen werden, zementiert die Abhängigkeit von Erdgasimporten und bremst damit zugleich heimische Investitionen in die Energiewende aus“, sagt Scheer. Sie warnt davor, eine Chance zu verpassen. „Grüner Wasserstoff wird aktuell noch nicht ausreichend nachgefragt, um in den Hochlauf zu kommen.“ Ein reduziertes Stromangebot werde den Wasserstoffhochlauf weiter erschweren und damit die künftige Versorgung von Industriezentren mit grünem Wasserstoff.

Scheer fürchtet, dass sich eine „Strommengen­debatte“ missbrauchen ließe. Importe eines aus Erdgas gewonnenen Wasserstoffs (H2) könnten dann den heimischen Markt für den emissionsfreien Energieträger verhindern, der das H2 mit Grünstrom in Elektrolyse erzeugen lassen soll.

Die Nervosität der Koalitionsverhandelnden erschien zu Beginn des Monats groß, den der mutmaßlich nächste Bundeskanzler Friedrich Merz mit dem Regierungsbündnis abschließen will. Zur Unruhe trug bei, dass die Anti-Energiewende-Partei AFD von politisch rechtsaußen in Umfragen mit der Union gleichgezogen war. Unionspolitiker wollten nun den „Neustart“ der Energiewende wörtlich als Ergebnis festschreiben, um bei abtrünnigen Wählern zu punkten. Und zum Neustart zählten sie die Wiederinbetriebnahme von sechs Atomkraftwerken, das Abscheiden des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) aus dann vermeintlich klimafreundlichen Erdgaskraftwerken, das Anrechnen im Ausland reduzierter CO2-Emissionen und die Rücknahme von Heizungsgesetz und Flächenzielen zum Windparkausbau.

21 Aktionsfelder Klima, CO2-Handel, Politik/Preise, Be­schleunigung, Netz, Flexibilität, Finanzierung, Ausbau (Solar, Wind, Bio, Wasser, Geothermie), Kraftwerksstrategie, CCU/CCS, H2, Kohle, KWK, Effizienz, Wärme, Staatsbeteiligung, Transformationsfonds

Viele fortschrittliche Ansätze

Dennoch sind sich Verhandler und Energiewendeakteure sogar in Erneuerbare-Energien-Branchen einig, dass die Sondierung viele fortschrittliche Ansätze brachte. Sie könnten neue Akteure, mehr Flexibilität und Wirtschaftlichkeit und breitere Dynamik in den Erneuerbaren-Ausbau bringen.

Die gemäß Parteifarben schwarz-roten Koalitionäre in spe hatten schon Anfang März ihr gröberes elfseitiges Sondierungspapier veröffentlicht und darin sowohl Kontinuität als auch mögliche neue Schwerpunkte ihrer Energiepolitik skizziert: „Wir stehen zu den deutschen und europäischen Klimazielen … Wir arbeiten entschlossen daran, diese … einzuhalten. Wir wollen Klimaschutz, soziale Ausgewogenheit und wirtschaftliches Wachstum pragmatisch und unbürokratisch zusammenbringen.“ Dies soll auch durch Leitmärkte für klimaneutrale Produkte zum Beispiel mittels Quoten für klimaneutral erzeugten Stahl oder etwa ein höheres Energieangebot erfolgen.

Im zwei Wochen später an Medien durchgestochenen Verhandlungsergebnis der Arbeitsgruppe für Klima und Energie (AG 15 – Klima und Energie) wird es, aufgelistet in mindestens 22 Handlungsfeldern, konkreter: Schwarz-Rot will grünen Strom mehr und vielfältiger nutzen lassen, weiter Bürokratie abschaffen, bildhaft notiert an enge Standards bindende Fesseln lösen, technologieoffene Investitionen und Versorgungskonzepte anregen und Hybridnutzungen zulassen sowie vorübergehend nichterneuerbare Energien nutzen, wo sie Klimaziele nicht gefährden.

Drei Tage, nachdem diese „finale Version“ im politischen Berlin zu kursieren begann, beflügelte sie bereits Fantasien auch in bisher geringfügig an der Energiewende teilhabenden Kreisen. So traf sich beispielsweise in Berlin der Bundesverband Regenerative Mobilität (BRM) zum „Politforum“. Die Repräsentanten mittelständischer Photovoltaik-, Biosprit- und Wasserstoffunternehmen setzen auf den in der finalen AG-15-Version fixierten „netzdienlichen Ausbau von Sonnen- und Windenergie, von Bioenergie, Wasserkraft und die Erschließung von Geothermie“. Ihnen gefallen Zusagen wie „Effizienzpotenziale beim Netz ... durch freiere Gestaltung sowie Überbauung am Netzverknüpfungspunkt“ zu heben – und auch diese: „Zudem nutzen wir die Potenziale klimaneutraler Moleküle.“

Aus Sicht der BRM-Unternehmen ist eine von dieser Koalition gewünschte Abkehr von der Komplett-Elektrifizierung der Energieversorgung mit Elektromobilität, Elektroheizen und strombetriebenen Industrie-Hochöfen chancenreich. Dadurch ließe sich die Nutzung neuer und alter grün erzeugter Treibstoffe weitgehend ausschöpfen. Außer grünen Elektronen will diese schwarz-rote Energiewende grün erzeugte Moleküle verwerten. Durch Kombination von wind- und sonnenbetriebenen Stromerzeugern mit gaserzeugenden Erneuerbare-Energien-Anlagen könnte sie außerdem Netzanschlussstellen vielleicht sogar mit einem Mehrfachen der zulässigen Gesamtleistung überbauen lassen, so lautet eine These der Experten beim BRM. Würden dort zusätzlich Elektro-
autos und Batteriespeicher ihre Energie wechselweise einspeisen und tanken, ließen sich sogenannte Dunkelflauten bei zu wenig Sonne und Wind – Phasen ohne grüne Energieerzeugung also – effizient und wirtschaftlich überbrücken. Hierbei könnten auch die Regelungen im Biomassepaket vom Februar helfen, das durch eine Vielparteieneinigung zustande gekommen war. So könnten Biomethankraftwerke im flexibilisierten Betrieb rentabel werden und als Speicherkraftwerke dienen.

Eingeladen hatte der BRM auch Nina Scheer, die der AG Klima und Energie angehörte. Über die nichtautorisierte Arbeitsgruppen-Einigung spricht die Sozialdemokratin nicht, erklärt aber die Bedeutung einschränkender Formulierungen im Sondierungspapier. So widerspricht sie der Sorge, der anvisierte Aufbau zentraler Gaskraftwerke mit bis zu 20 Gigawatt (GW) Nennleistung bis 2030 zum Ausgleich von immer mehr wetterabhängiger Grünstromerzeugung könne dezentrale Biomethankraftwerke aus dem Markt halten. Scheer verweist auf den Textbaustein „bis zu 20 GW an Gaskraftwerksleistung“. Der Ausbau der Reservekraftwerke werde dank der Bis-zu-Einschränkung nur bedarfsgerecht erfolgen und lasse den für Verteilnetze besser geeigneten dezentralen grünen Kraftwerken den Raum.

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz der SPD-Doppelspitze und der beiden Spitzenmänner von CDU und CSU verwies am Folgetag der CSU-Chef Markus Söder dann auf eine Grundhaltung, mit der die Koalitionäre seiner Meinung nach eine die Energiewende stützende Herangehensweise garantierten. Die künftigen Partner seien „konstruktiv und nicht radikal“.

20 Gigawatt maximale Reservekapazität durch zentrale Gaskraftwerke sieht Schwarz-Rot vor.

Flexibler Umgang mit Standards

Diesen pragmatischen Umgang nutzen die Koalitionsverhandler auch, um Klimaschutzmaßnahmen und Grünstromvorrang aufs vermeintlich Machbare zu beschränken. Sie wollen einen schnellen Hochlauf einer Wasserstoffwirtschaft, die das emissionsfrei verwertbare H2 als Treib- oder Prozessstoff zum Senken der CO2-Emissionen in Verkehr und Industrie im großen Stil nutzt: zuerst brauche es „klimafreundlichen Wasserstoff aus verschiedenen Quellen“, dann „langfristig die Umstellung auf klimaneutralen Wasserstoff“, basierend schließlich auf dem „wachsenden Anteil erneuerbarer Energien aus dem Inland und aus Importen“. Das soll in großen systemdienlichen Elektrolyseanlagen und auch „dezentral und flächendeckend“ erfolgen. In klares Bürgerinnen- und Bürger-Deutsch übersetzt kann die H2-Wirtschaft also Handelsräume für Sonnen- und Windkraft vergrößern und doch die konventionellere Energiewirtschaft einbinden.

Beim Bundesverband Windenergie (BWE) lobt der Geschäftsführer Wolfram Axthelm: „Tendenziell sind viele Punkte positiv zu sehen.“ Axthelm stellt nicht in Abrede, dass gerade CDU/CSU die in Ausschreibungen den Anbietern von Erneuerbare-Energien-Projekten zugeteilten Vergütungssätze gemäß Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) abschaffen wollen. „Wir verfolgen das Ziel, dass sich Erneuerbare Energien perspektivisch vollständig am Markt refinanzieren können“, heißt es im Arbeitsgruppenpapier. Doch verweist Axthelm auch darauf, dass die Koalitionäre wohl einen zeitlich gut planbaren Wandel statt eines Systembruchs vorbereiten. Weil die beihilferechtliche Genehmigung der Europäischen Union (EU) erst 2026 ende, werde die neue Regierung erst 2027 den Wechsel in ein von der EU verlangtes Differenzvertragsverfahren vollziehen. Das sieht Verträge mit in Ausschreibungen siegreichen Projektanbietern vor. Solche Contracts for Difference ermöglichen es, Gewinne oberhalb eines bezuschlagten Vergütungswertes beim Wind- oder Solarparkbetreiber abzuschöpfen, garantieren aber umgekehrt auch staatliche Zuschüsse unterhalb dieser Schwelle. Um den Systembruch zu vermeiden, sagt Axthelm, werde Schwarz-Rot dafür das EEG nicht ändern. Eher dürfte die Koalition das existierende Strompreisbremsengesetz zum Abschöpfen von Übergewinnen nutzen. Dann gehe die Vergütung „in den nächsten Jahren geordnet in die Weiterentwicklung“.

Ebenso unaufgeregt könnte durch eine Baugesetzänderung das Repowering leichter werden, der Austausch alter gegen neue, leistungsfähigere Windkraftanlagen. So wollen die Koalitionäre „den erweiterten Bestandsschutz für Ersatzeinrichtungen prüfen“. Neue Turbinen könnten den Windparkinhabern demnach vielleicht als Ersatzeinrichtungen an bestehenden Windparkstandorten zustehen.

Für die Photovoltaik (PV) wollen die Koalitionäre den Betreibern von Bestandsanlagen „Anreize für eine netz- und systemdienliche Einspeisung“ setzen und „die neuen Bestimmungen des Solarspit­zen­gesetzes“ prüfen. Das sieht seit Februar vor, dass bei Solarstromüberschüssen und negativen Stromhandelspreisen die Anlagenbetreiber keine Vergütung bekommen, aber für die vergütungslose Zeit eine längere Betriebserlaubnis nach Ende der genehmigten Laufzeit bekommen. Auch will Schwarz-Rot mehr Industriestrom-Direktversorgung, indem die bisher vorgegebene räumliche Nähe wegfällt: Industrieunternehmen sollen „selbst entscheiden, ob sie durch eine 5, 10 oder 20 Kilometer lange Leitung“ die Fabriken direkt anschließen, lobt Axthelm. Die Verstärkung der Verteilnetze zum Anschluss von PV und Windkraft soll zudem mittels Bauanzeigeverfahren der Netzbetreiber einfacher werden.

Systemdienlich soll es immer sein

Darüber hinaus wollen die Koalitionäre systemdienliches Verhalten belohnen und weitere Kapazitäten zum Vertrieb und Verbrauch grünen Stroms erschließen: Sie wollen Parkplatz-, Agri- und Floa­ting-PV – schwimmende Solarpaneele –, um mit Doppelnutzungen mehr Entwicklungsraum zu gewinnen. „Ausbau systemdienlicher Speicherkapazitäten und die systemdienliche Nutzung von E-Auto- und Heimspeichern“ stehen ebenso auf der Agenda wie Unterstützung fürs Elektro-Auto-Laden am Arbeitsplatz und bidirektionales Laden, wenn die Stromer ungenutzte Batterieladungen zu Standzeiten bei wenig Grünstromaufkommen rückspeisen. Die „Ansiedelung von großen Abnehmern wie etwa Rechenzentren, Speichern und großen Erzeugern erneuerbarer Energien dort anreizen, wo es dem Netz nützt“, sagen die Verhandler der AG Klima und Energie ebenso zu und wollen Energiespeicher als Sache „im überragenden öffentlichen Interesse“ anerkennen und Steuern, Abgaben und Entgelte wo möglich abschalten. Leichter werden soll „regionale Nutzung ansonsten abgeregelten Stroms“.

Doch zu Redaktionsschluss blieben strittige Punkte. So wollen beide Seiten die Abscheidung von CO2 für den Klimaschutz nutzen, die SPD dies aber weder allen Industrien erlauben noch Gaskraftwerken, um keine Klimaschutz-Deckmäntelchen zu verteilen. SPD und Union wollen die Kohleverstromung in Reservekraftwerken bis 2038, statt wie heute den Ausstieg bis 2030 zu versuchen – CDU/CSU wollen aber mit Gas-Grundlastkraftwerken auch Strompreise dämpfen. Gedeckelte Industriestrompreise und um fünf Cent pro Kilowattstunde gesenkte Verbraucherpreise sagen immerhin beide Seiten zu.

Merz-Regierung

Nach der Neuwahl am 25. Februar 2025 erschien noch vor beginnenden Parteien-Sondierungen, geschweige denn Koalitionsverhandlungen, nur ein neues Regierungsbündnis von CDU/CSU und SPD realistisch. So begannen frühzeitig Koalitionsverhandlungen. Die Wahl des Bundeskanzlers, mutmaßlich von CDU-Chef Friedrich Merz, soll im Mai stattfinden.

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