Der Gesetzgeber hat 2022 das Bundesnaturschutzgesetz geändert und die Habitatpotenzialanalyse sowie die Probabilistik eingeführt. Werden nun Vogelschutz und Windkraft miteinander versöhnt?
Hartwig Schlüter: Nein, durch die Gesetzesänderung wurde das „Erkenntnisvakuum“, das das Bundesverfassungsgericht 2018 den Normenanwendern attestierte, nicht behoben. Die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, dass man sich an der „Erkenntnisgrenze der Ökologischen Wissenschaft“ zu bewegen hat, wurde vom Gesetzgeber ignoriert. Das „Risk-Assessment“ und dessen Fortschreibung, zu dem der Staat auch nach EU-Recht verpflichtet ist, hat er nicht in Angriff genommen. Die rechtlich zwingend erforderlichen Risiko-Risiko-Vergleiche und Nutzen-Risiko-Betrachtungen ließ er weiterhin außer Acht. Der Gesetzgeber scheitert bereits kläglich mit seinem scheinbaren Maßstab „signifikant erhöhtes Tötungsrisiko“ ohne Bezugsgröße – das ist mathematisch vollkommener Nonsens.
Die Probabilistik, also Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, hilft hier nicht, um Vogel-Kollisionsrisiken zu bewerten?
Hartwig Schlüter: Schaut man sich an, wie das nach dem Probabilistik-Gutachten gehandhabt werden soll, muss man von einem gravierenden wissenschaftlichen Täuschungsversuch sprechen. Es verbietet sich, den Einzelfall beurteilen zu wollen, ohne den Gesamtzusammenhang ermittelt zu haben. Wissenschaftlichkeit wird nur vorgetäuscht. Wenn Rotmilane in der Regel an Windenergieanlagen kollidieren, die in großer Entfernung zum Brutplatz stehen, ist die gewillkürte Abstandsregelung aus dem 2022 geänderten Bundesnaturschutzgesetz neben der Sache. Das ist Vorsorge ins Blaue hinein. Nochmals, entgegen der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts aus dem Beschluss vom 23.10.2018, versucht sich der Gesetzgeber um eine ökologische Bewertung der Vogelkollisions-Thematik zu drücken.
Sie halten die ökologische Beurteilung von Rotmilan-Kollisionsrisiken für trivial?
Hartwig Schlüter: In der Tat. Aus ökologischer Sicht muss die Todesursache in Relation zu anderen Todesursachen wie Katzen, Verkehr, Stromschlag, und anderem betrachtet werden. Es macht ferner keinen Sinn, in Regionen, in denen zum Beispiel der Rotmilan auf Grund der absehbaren Klimazonenverschiebung aussterben wird, Windprojekte wegen eines Rotmilanvorkommens zu verbieten. Der Rotmilan ist ein Nahrungsopportunist; wenn es denn aus ökologischer Sicht erforderlich wäre, müsste man nur etwas Mehraufwand betreiben, um den Anlockeffekt durch Kleinsäuger in der Mastfußbrache zu vermeiden. Es ließen sich noch zahlreiche weitere Argumente dazu anführen, warum der Rotmilan kein Entgegenhalt für Windenergieprojekte ist. Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht haben der ökologischen Wissenschaft bei artenschutzrechtlichen Risikoentscheidungen ein Primat gegenüber der juristischen Bewertung eingeräumt – offenbar gibt es in den Umweltministerien weder Ökologen noch Juristen mit wissenschaftlichem Anspruch.
Was muss also getan werden?
Hartwig Schlüter: Es bräuchte eine unabhängige Evaluation gemäß der nachfolgenden Checkliste: – Gibt es eine Selbstverpflichtung zu den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis? Und werden diese Regeln beachtet? – Gibt es eine unabhängige wissenschaftliche Qualitätskontrolle und eine Fehlerkultur? – Werden die relevanten Fachwissenschaften beigezogen? – Wird Widersprüchen nachgegangen? – Werden verwendete (Risiko-)Begriffe definiert und werden sie an Zahlenbeispielen erläutert? – Werden die klassischen Axiome der Mathematik beachtet? – Wird ein Maßstab aus dem Gesamtzusammenhang hergeleitet? – Wird die „Erkenntnisgrenze der ökologischen Wissenschaft“ beachtet? – Gibt es Risiko-Risiko-Vergleiche und Nutzen-Risiko-Betrachtungen? – Wird gegen nationales/europäisches Umweltrecht verstoßen? – Kommt Deutschland der Verpflichtung zum Risk-Assessment nach? – Werden relevante Rechtsgrundsätze wie Bestimmtheits-, Verhältnismäßigkeits-, Ermittlungsgrundsatz und Rationalitätsgebot beachtet? – Wird Vorsorge „ins Blaue“ vermieden?